Im Juni 1923 war der US-Biologe Lee Raymond Dice mit seiner Frau in Maine, dem nördlichsten Bundesstaat, in den Camping-Ferien. Das wissen wir, weil Dice im Fachmagazin «Journal of Mammalogy» darüber berichtete, in einer Zeit, in der wissenschaftliche Publikationen sich noch lasen wie Abenteuerromane.

So schrieb er ausschweifend, wie er am Morgen einen einzigen Fisch fing und ihn beim Lagerfeuer an einen Baum nagelte. Der Angelausflug am Nachmittag war dann ergiebiger, aber bei der Rückkehr ans Feuerchen sei vom morgendlichen Fang nur noch der Kopf übriggeblieben.

Dice habe sofort «seinen alten Freund, Billy den Mink» verdächtigt, der sich über den Fisch hergemacht habe, aber die Hufspuren unter dem Baum liessen einen anderen Übeltäter vermuten – und tatsächlich stand kurze Zeit später ein Hirschbock im Camp und schaute sich nach Nachschlag um.

Die Anekdote über den fischfressenden Hirschbock fand den Weg ins Fachmagazin – und wird bis heute zitiert, wenn Wissenschaftler über Pflanzenfresser schreiben, die es mit dem Vegetarier-Sein nicht ganz so genau nehmen. Das passiert nämlich immer wieder, oft aus Versehen. Da versteckt sich etwa mal ein Käfer im Grasbüschel, das vom Schaf gepflückt wird. Oder die Kuh nimmt einen tüchtigen Schluck Wasser vom Teich und erwischt dabei eine Ladung Kaulquappen.

Achtung, nicht ganz für schwache Nerven: Hier frisst eine Kuh ein Küken

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Es gibt aber auch Beispiele, die nicht mehr unter Zufall laufen. Ein Youtube-Video aus Indien etwa zeigt eine Kuh, die – zum Amüsement aller Umstehenden – ein Küken packt und mit Haut und Federn frisst. In der Wissenschaft wird ein solches Verhalten oft mit einer Mangelernährung erklärt, die dadurch ausgeglichen werden soll. Pascal Marty, Kurator des Zoos Zürich, geht neben einer möglichen Mangelernährung auch von Opportunismus aus. «Tiere machen das, wenn sich ihnen die Gelegenheit bietet. Einfach, weil sie es können. Einen Nachteil haben sie ja dadurch meist nicht.»

Deswegen gleich in Frage zu stellen, ob Kühe Vegetarier sind, findet Marty allerdings nicht angebracht: «Wenn sich eine Kuh zu 99 Prozent von Pflanzen ernährt und einen Verdauungstrakt hat, der sich perfekt auf die Verdauung von Pflanzen angepasst hat, ist es schon in Ordnung, sie als Pflanzenfresserin zu bezeichnen. Die Grenzen zwischen den Kategorien sind bei manchen Tieren einfach nicht so scharf abgetrennt, wie man sich das vorstellt.»

Ein Schwarzrückenducker und ein Flachlandtapir gönnen sich einen Happen Fleisch

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Knochen kauen ist beliebt
Diese Übergänge sind nicht immer nur anekdotisch. Auf den Shetland-Inseln etwa fand ein Forscherteam Dutzende zerfledderte Küstenseeschwalben. Nur per Zufall erwischten sie den Täter auf frischer Tag und schrieben: «Eine Aue trug einen jungen Vogel im Maul, beim Kopf gepackt. Sie kaute ein paarmal darauf herum und schüttelte sich, sodass der Kopf des Vogels abgetrennt wurde. Dann kaute sie mehrere Minuten auf dem Vogelkopf herum, schluckte ihn hinunter und wandte sich wieder dem Heidekraut zu.»

Die Forscher der Universität Glasgow gehen davon aus, dass dieses Verhalten System hat, weil die Ernährung der Schafe auf den kargen Shetland-Inseln nicht sehr reich an Mineralstoffen sei. Das zusätzliche Kalzium und Phosphor aus den Vogelknochen sei der Gesundheit durchaus zuträglich.

Ähnliches kennt man auch von Giraffen, die schon oft beim Kauen von Knochen beobachtet wurden. Auch Rappenantilopen wurden schon dabei erwischt. Und Stachelschweine, eigentlich auch Pflanzenfresser, lagern in ihren Bauten haufenweise Tierknochen. Zum einen, um ihre Nagezähne zu schärfen, zum anderen vermutlich aber auch für einen Schub Extra-Kalzium im Körper.

Wer Flusspferden ins Maul schaut, wird kaum überrascht sein, dass bei ihnen auch mal etwas Tierisches auf dem Speiseplan landet. Die imposanten Zähne sind zwar in erster Linie für Revierkämpfe gut, aber man sieht die Tiere auch immer wieder auf toten Zebras herumkauen, was auch Risiken birgt, wie ein Forscherteam mit Schweizer Beteiligung herausfand: Wiederholt hätten sich Flusspferde beim Fressen von Kadavern mit Milzbrand infiziert und seien daran gestorben.

Diese Flusspferde teilen sich mit Krokodilen ein Zebra

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Inkonsequente Vegetarier gibt es auch bei den Vögeln. Eine Gruppe von Regenbogenloris hat es 2015 in die australischen Medien geschafft und Experten verblüfft, weil sie Gefallen am Hackfleisch fanden, das ein Gartenbesitzer eigentlich für Elstern und Kookaburras ausgebracht hatte. Die bunten Papageien fanden Gefallen am proteinreichen Snack. Mehr noch: Sie begannen bald, das Fleisch gegen andere Vögel zu verteidigen.

Loris essen Hackfleisch

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Bluttat im Elefantengehege
Zurück in die Zeit der blumigen Anekdoten. Der Zoo Zürich hat da nämlich eine besonders schaurige Fleischfresser-Geschichte auf Lager, zumindest wenn man dem amerikanischen «Time Magazine» glaubt. 1944 habe Zoo-Elefant «Chang» nämlich eine nächtliche Besucherin samt Hut und Handtasche verschlungen.

Die auf Sensation getrimmte Geschichte ist offenbar übertrieben. Nach Recherche in den Archiven bestätigt Zoo-Mediensprecherin Rita Schlegel zwar, dass damals eine Frau von ebenjenem Elefanten getötet wurde: «Die Frau wurde wohl schlimmstens und bis zur Unkenntlichkeit zugerichtet.» Der ehemalige Zoodirektor Heini Hediger schrieb 1965, der Elefant habe sie nicht nur zu Tode gedrückt, sondern gar «in kleine Stücke zerlegt, die Muskulatur stellenweise von den Knochen gestossen und aus der Haut gequetscht.» Nur gefressen, schreibt Hediger, habe er nichts von der Leiche.

Auch ohne blutrünstige Elefanten gibt es genügend Beispiele von Pflanzenfressern, die dabei ertappt wurden, wie sie Fleisch fressen. Laut Zoo-Kurator Pascal Marty ist es aber schwierig, aus diesen Anekdoten eindeutige wissenschaftliche Erkenntnisse zu ziehen. «Man weiss einfach zu wenig darüber.» Und da es ethisch kaum vertretbar ist, Pflanzenfresser für wissenschaftliche Experimente mit Fleisch zu füttern, wird das vermutlich auch noch einige Zeit so bleiben.