Ein verletztes Reh hat sich in den Garten eines Mehrfamilienhauses am Stadtrand von Zürich zurückgezogen und dort irgendwo versteckt. Die besorgten Bewohnerinnen informieren die Polizei, die den Fall Wildhüter Stefan Dräyer weiterleitet. Er gehört zu einem vierköpfigen Wildhüterteam, das 365 Tage im Jahr 24 Stunden lang erreichbar ist. Bei seiner Ankunft zeigen ihm die Finderinnen ein Foto, das sie vom Reh aufgenommen haben. Das Tier hat eine grosse Wunde am Kopf und ist stark abgemagert. Mit letzter Kraft muss es sich in den Garten, in der Nähe eines Bachs, geschleppt haben. «Kranke oder verletzte Tiere suchen häufig die Nähe von Wasser», erklärt der Wildhüter. 

Für den Fachmann ist der Fall klar: Das Tier muss erlegt werden. Er geht zu seinem Landrover und nimmt die Flinte heraus. Dass man so ein Tier verarzten oder pflegen könnte, wie ein tierfreundlicher Laie es sich wünschen würde, bleibt ein frommer Wunsch und hat wenig mit der Realität zu tun – denn ein Wildtier würde sich nach einer allfälligen Wundversorgung oder Pflege durch Menschen nie mehr in Freiheit zurechtfinden. 

Stefan Dräyer schultert seine Waffe, zieht eine Sicherheitsweste an und beginnt, langsam den Garten zu durchsuchen. Nach 20 Minuten hallt ein Schuss durch die Gegend. «Für das Tier war es eine Erlösung. Es ging ihm sehr schlecht», sagt der Wildhüter. Der alte Rehbock hätte nicht mehr lange gelebt, und nur noch leiden müssen. «Sie haben richtig gehandelt, dass Sie angerufen haben», sagt Stefan Dräyer zu den Bewohnerinnen, überreicht ihnen seine Visitenkarte und verabschiedet sich freundlich. 

In Basel gibts so viele Marder wie Katzen
Tiere erlegen gehört nicht zu den Lieblingsbeschäftigungen des Wildhüters, aber es ist ein Teil seiner Arbeit. Stefan Dräyer und sein Bayrischer Gebirgsschweisshund Ayco halten sich oft im städtischen Wald auf, sie werden aber auch häufig in den Zürcher «Grossstadtdschungel» gerufen. Etwa wenn eine Stockente ihre Jungen auf einem begrünten Flachdach schlüpfen lässt und vom Wildhüter in einer Kiste an den See gebracht werden muss, weil sie den mehrere Hundert Meter langen Weg allein nicht schaffen würde. Rehe und Enten sind nur zwei von mehreren Tausend verschiedenen Tierarten, die in der Stadt Zürich leben. Dazu gehören nicht nur Fuchs, Tauben, Igel, Marder, Feldhasen und Eichhörnchen, sondern auch zahlreiche andere bekannte oder unbekanntere Tiere wie Fledermäuse, Eidechsen, Schlangen, Fische, Dachse und unzählige Insekten wie Käfer, Schmetterlinge oder Spinnen. Sie alle besiedeln städtische Gärten, Gebäude, Blumenwiesen, Bahnareale, Gewässer und Stadtwälder.

In den letzten Jahrzehnten sind die menschlichen Siedlungsräume und damit auch die Städte zu beliebten Lebensräumen von Wildtieren geworden. In Basel leben gemäss Medienberichten fast so viele Marder wie Katzen, der seltene Wanderfalke kommt am häufigsten in New York City vor, und in Berlin sind mitten in der Stadt Waschbären und Wildschweine anzutreffen. In Zürich wurden vor rund 15 Jahren die ersten Wildsauspuren entdeckt – seit drei Jahren leben ständig Wildschweine auf Stadtgebiet: Sie rotten sich auf dem Hönggerberg und beim Eingang zum Gubristtunnel zusammen und wühlen auf der Suche nach Nahrung mit dem Rüssel den Boden auf – zum Missfallen der Menschen oft auch auf Wiesen.

«Die Stadt ist für anpassungsfähige Wildtiere attraktiv, weil sie zwei Dinge bietet: einen grünen Lebensraum, in dem sie sich wie in einer Wohnstube wohlfühlen», sagt Stefan Dräyer. Zum anderen ein grosses Nahrungsangebot, was mit unserer Wohlstands- und Wegwerfgesellschaft zu tun hat. Die Wildtiere finden auf Schritt und Tritt Essensreste in Mülltonnen, auf Parkbänken und Wiesen, Gemüsebeete in Hausgärten, Komposthaufen, ausgestreutes Vogelfutter. Im Freien platzierte Katzenfutterschälchen sind im wahrsten Sinn des Wortes ein gefundenes Fressen für Füchse. Für viele der rund 1000 auf Zürcher Stadtgebiet lebenden Füchse ist es verlockender und einfacher, das bereitstehende Katzenfutter zu fressen, als mühsam eine Ratte zu erbeuten. 

Für die Wildhüter ist das bewusste Füttern von Wildtieren, etwa von jungen Füchsen, aber eine grosse Dummheit, ja Stefan Dräyer bezeichnet es sogar als «Tierquälerei». Denn so verlieren die Tiere ihr natürliches Verhalten. In der Folge verlieren die Füchse immer mehr ihre Scheu, gewöhnen sich an die Menschen, ziehen durch Strassen und Gärten und betreten in lauen Sommernächten auch mal offene Wohnungstüren und erschrecken oder beissen die verdutzten Bewohner. Wie sehr sich die intelligenten Füchse bereits an den städtischen Siedlungsraum gewöhnt haben, zeigen gestohlene Schuhe: Immer wieder schleppen Fuchsmütter vor der Haustüre deponierte Schuhe als Spielzeug für ihre Jungen in den Fuchsbau. 

Autos und Fenster sind Gefahrenherde
Die Stadt ist aber nicht nur Lebensraum, sondern häufig auch eine Todeszone für wilde Tiere. Denn hier drohen Gefahren, die sie aus der Natur nicht kennen: Offene Licht- oder Lüftungsschächte und Kamine, Gartenzäune oder Schwimmbassins können zu tödlichen Fallen werden. Jährlich kommen Hunderttausende von Vögeln um, weil sie mit Glasscheiben kollidieren. Tödlich verlaufen auch viele Kollisionen von Tieren mit Autos. «Je grösser das Strassennetz und je höher die Wilddichte ist, desto mehr Fallwild gibt es», sagt Ruedi Zbinden, Wildhüter der Stadt Bern. Damit sind überfahrene oder angefahrene Rehe, Füchse, Dachse, Marder, selten auch Wildsäue gemeint. Genaue Zahlen können nur schwer erhoben und angegeben werden, weil etliche Autofahrer die Kollisionen nicht vorschriftsgemäss und unverzüglich der Polizei oder der Wildhut melden. Möglicherweise, weil sie angetrunken unterwegs waren. Dabei wäre es wichtig, insbesondere angefahrene Tiere zu finden und mit einem Gnadenschuss zu erlösen, damit sie nicht länger leiden müssen.

Wildhüter wie Ruedi Zbinden werden immer wieder informiert, wenn sich Menschen von Tieren bedroht fühlen. Etwa wenn Jogger von einem Mäusebussard angegriffen worden sind. Was für Laien wie eine Attacke aussieht, ist aus Sicht des Wildhüters ein Verteidigen der Jungen: «Im Frühling unternehmen die Jungvögel ihre ersten Flugversuche. Viele Vogeleltern fühlen sich während den Flugstunden des Nachwuchses gestört und verscheuchen die Spaziergänger oder Jogger, indem sie sehr nah über ihre Köpfe hinwegfliegen.»

Tiere sind in Städten so allgegenwärtig, dass beispielsweise Zürich und Bern sogar Broschüren mit Tipps über das richtige Verhalten herausgegeben haben. Zu den wichtigsten Punkten gehört es, auf den Wegen zu bleiben, die Hunde an die Leine zu nehmen, keine Wildtiere zu füttern, Abstand zu halten und die Tiere keinesfalls zu berühren – selbst und vor allem auch dann nicht, wenn es sich um ganz niedliche Jungfüchse handelt. Denn sie sind wild lebende Tiere und sollen es auch bleiben.

In Zürich können Interessierte ihre eigenen Beobachtungen von Wildtieren in der Stadt melden unter: www.stadtwildtiere.ch