Happy ist nicht glücklich. Ängstlich äugt der junge schwarze Kater durch die Gitterstäbe der Transportbox. Die ungewohnte Umgebung, das Winseln des Hundes auf der anderen Seite des grossen, hellen Warteraums – gerne hätte Besitzerin Geesa Tuch aus dem Zürcher Oberland ihrem Liebling diese Aufregung erspart. «Doch als unser sonst so lebhafter Happy heute Morgen zitterte und mehrfach erfolglos versuchte, Wasser zu lösen, beschloss ich, mit ihm in den Notfall zu fahren.»

Hier heisst es für sie nun erst einmal warten. Denn in den Behandlungsräumen ist einiges los. Drei Ärzte, neun Assistenzärzte und Tiermedizinische Praxisassistentinnen (TPA) haben alle Hände voll zu tun. Mittendrin – und laut eigenen Worten überall gleichzeitig – ist Alessio Vigani. Der 37-jährige Veterinär, der in Mailand und Florida studiert hat, ist Diplom-Facharzt für Anästhesie und Schmerztherapie. Seit der Neueröffnung am 1. Juli dieses Jahres leitet er die Abteilungen Notfall- und Intensivmedizin des Tierspitals Zürich, zwei weitere seiner Spezialgebiete. «Eine Tier-Notfallabteilung, die an 365 Tagen im Jahr eine Rundumbetreuung durch Spezialisten garantiert, ist weltweit etwas Besonderes», sagt er.

Mit Methadon und Sauerstoff
Seine gute Laune verliert der gebürtige Italiener mit dem breiten amerikanischen Englisch nicht, obwohl ihm eine lange ereignisreiche Schicht bevorsteht. Sie beginnt am Mittag im Notfallraum, in der Intensivstation der Abteilung. Hinter einem Behandlungstisch mit zahlreichen Apparaturen und Schläuchen steht eine grosse Box. Im Inneren hat sich ein braunes Kätzchen auf einem flauschigen Stofftuch zusammengerollt. Passanten haben es entdeckt und vor einer halben Stunde in den Notfall gebracht.

Der Alltag von Alessio Vigani und seinem Team vom Kleintier-Notfall im Video (Video: Meret Signer):

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«Vermutlich wurde es von einem Auto angefahren. Welche Verletzungen es hat, wissen wir noch nicht», sagt Vigani, während er den kleinen Patienten durch die Glasscheibe mustert. Das Büsi bleibt vorerst zur Beobachtung in der Sauerstoff-Box. «So müssen wir es nicht anfassen, was ein zusätzlicher Stressfaktor wäre.» Die hohe Sauerstoffkonzentration wirke beruhigend, zusammen mit der schmerzstillenden Methadon-Dosis. Für die Behandlung kommt in diesem Fall die Klinik auf, mit Geld aus einem speziellen Fonds für Findeltiere. 

Eine Glocke läutet. Der nächste Notfall ist eingetroffen. Praxisassistentin Stephanie Monegat, die im Behandlungszimmer nebenan gerade einem Hund Beruhigungsmittel verabreicht hat, steckt den Kopf durch die angelehnte Tür. «Ich schaue nach!», ruft sie. Alessio Vigani nickt. «Die rasche Erstbeurteilung durch eine Fachperson bereits 30 Sekunden nach der Ankunft kann lebenswichtig sein», erklärt er, während er einen Kater namens Tolomeos mustert. Dessen Kampfverletzungen, der blutende Biss am Bauch und der Kratzer unter dem Auge, sehen zwar nicht schön aus. Sie sind aber nicht lebensbedrohlich. Der Patient und seine Besitzer müssen sich daher im Warteraum gedulden. 

Schwere Fälle gehen vor
Das stosse bei den Tierhaltern, die manchmal aus der ganzen Schweiz und sogar dem nahen Ausland anreisen, oft auf Unverständnis, erklärt der Abteilungsleiter. «Doch Notfallmedizin funktioniert eben nicht nach dem Prinzip, dass zuerst drankommt, wer zuerst da ist.» Ausschlaggebend für die Reihenfolge ist einzig die Schwere der Fälle. Nach Hause geschickt wird dennoch niemand. Man nehme jeden Notfall ernst. Denn im Gegensatz zu Menschen, die mitunter wegen Bagatellen die Notaufnahmen der Spitäler aufsuchen, könne ein Tier nicht sagen, was ihm wehtut. Das Erlösen von Schmerzen gehört auch zu den Aufgaben des Teams. Das sei ein wichtiger Bestandteil der Notfallmedizin. Wenngleich auch einer, der fürs Team manchmal genauso belastend sei wie für die Tierhalter: Wenn ein Tier eingeschläfert werden muss. 

Besonders in solchen Situationen ist psychologisches Geschick gefragt. Die Art und Weise, wie man mit den Besitzern umgeht, sie informiert, tröstet oder beruhigt, trägt laut Vigani einen grossen Teil zum Erfolg einer Notfallabteilung bei. Mit aggressiven Patienten, die in den Spitälern für Humanmedizin vermehrt zu einem Problem werden, muss sich sein Team indes kaum herumschlagen. Lediglich zweimal sei es zu Drohungen von angetrunkenen Kunden gekommen, die aber rasch beschwichtigt werden konnten. 

Zu langes Warten kann gravierende Folgen haben
«Oft warten Tierhalter eher zu lange, bis sie zu uns kommen», weiss Vigani aus Erfahrung. Lange Wartezeiten für nichtakute Fälle lassen sich da nicht vermeiden. Doch selbst während Spitzenzeiten wie an diesem Sonntag kontrolliert stündlich eine Fachperson, ob sich der Zustand eines der wartenden Patienten in der Lobby verschlechtert hat.

Schlecht geht es plötzlich Kater Pallino in einem der grossen Käfige im Behandlungsraum. Er zuckt. Springt unkontrolliert umher. Prallt gegen die Gitterstäbe. «Ein Anfall!», ruft eine der Paxisassistentinnen. Nach fünf langen Sekunden ist er vorbei und Pepe liegt regungslos am Boden. Die Mediziner lassen alles andere stehen und liegen. Vigani holt den Kater aus der Box. Seine Mitarbeiterinnen sind mit Spritzen, Beatmungsgerät und weiteren medizinischen Apparaturen zur Stelle.

Es ist still geworden im Raum. Nur das Piepsen des Gerätes, welches den Puls des ohnmächtigen Patienten misst, ist zu hören. Der Kater erhält eine Injektion, die weiteren Anfällen vorbeugt. Und eine, welche den Kreislauf wieder in Schwung bringt. Nach ein paar Minuten ist Pallino stabil. Nun ist er ein Fall für die Neurologin, eine der Spezialistinnen, die auf Abruf bereitstehen. Sie wird für den späteren Abend aufgeboten.

Die Kunst, Prioritäten zu setzen 
Es ist nicht zu übersehen: Wer hier arbeitet, muss nicht nur stressresistent sein. Er muss vor allem Prioritäten setzen und in Sekundenbruchteilen entscheiden können, wer am dringendsten Hilfe benötigt. Der grosse Bildschirm vor den Behandlungsräumen leistet dabei unverzichtbare Dienste. Ein ausgeklügeltes System, das die Tierärzte über Computer in den Behandlungsräumen laufend  mit Daten füttern, hilft, die Übersicht zu behalten. So sieht jeder, wann welcher Patient im Notfall angekommen ist und in welcher Station er sich gerade befindet – oder ob er schon nach Hause durfte. Das Teminal gibt Hinweise auf die Symptome, und – für Vigani noch wichtiger – Auskunft über den Schweregrad jedes Falls. Rot bedeutet «akuter und dringend», damit sind an diesem Sonntag fast die Hälfte der Einsätze gekennzeichnet. Die Fälle mit dem grünen Feld hingegen sind nicht akut.

Der nächste Einsatz wartet: Praxisassistentin Stephanie Monegat kommt aus dem Empfangsraum zurück, an der Leine Emely, eine kleine schwarze Hundedame. Ihr herzerweichender Blick berührt Alessio Vigani, der selber drei Hunde hat. «Was ist denn mit dir los?», fragt er mit besorgter Stimme und streichelt die Kleine. Seine Kollegin klärt ihn auf. Emely hat nach Angaben ihrer Besitzer ein Stöckchen verschluckt. Nun klafft eine schmerzende Wunde in ihrem Rachen. Vigani wird sie später mit zwei Stichen nähen. Zuerst aber erhält Emely Beruhigungs- und Schmerzmittel. 

Mehr als 30 Fälle im Durchschnitt
Bis die Dosis wirkt, betrachtet der Abteilungsleiter die Röntgenaufnahmen von Fahro, dem Hund mit Verdauungsproblemen, der auf dem hinteren Behandlungstisch liegt. Halb so wild, findet er, die Sache werde sich mit Medikamenten behandeln lassen.

Mittlerweile ist es Abend geworden. Noch immer kommen neue Patienten an. Mehr als 30 Fälle werden es bis Schichtende kurz vor Mitternacht sein, vor allem Katzen, Hunde und ein flugunfähiger Vogel. Laut Vigani ein durchschnittlicher Sonntag. Gerüstet wäre man auch für die Behandlung exotischer Tiere wie Schlangen oder Echsen. Doch die Spezialisten, die für solche Fälle auf Abruf bereitstehen, kommen nur selten zum Einsatz. 

In der Empfangshalle draussen sitzt Geesa Tuch noch immer mit ihrem Happy. In den letzten Stunden hat sie nach eigenen Angaben berührende Szenen erlebt, wenn Tierhalter ihre Lieblinge nach erfolgreicher
Behandlung wieder in Empfang nehmen durften. Trotz der langen Wartezeit ist sie zuversichtlich: Offenbar ist Happy nicht lebensbedrohlich erkrankt. Sonst wäre er längst drangekommen.