Kinder leben eine ambivalente Beziehung zu Tieren. Im Alter von drei bis sechs Jahren erfassen sie Tiere als personifizierte Lebewesen, mit denen sie nach eigenem Gutdünken umgehen. Kommt später Wissensbildung hinzu, verstehen die Kinder das Tier als eigenständiges Wesen mit eigenen, zu respektierenden Bedürfnissen. Ob Kinder Tiere fürchten, ablehnen, lieben und respektieren, hängt auch von gemachten Erfahrungen und dem Vorbild der Erwachsenen ab.

Nehmen wir folgendes Beispiel: Eine Stadttaube trippelt vertrauensvoll zwischen den sie nicht beachtenden Passanten. Plötzlich löst sich ein kleines Kind von der Hand seines Vaters und rennt der Taube gezielt nach. Diese versucht schneller trippelnd sich aus der unschönen Situation zu retten. Das Kind wird aggressiver, kickt mit dem Fuss Richtung Taube, hüpft auf und ab und ruht nicht eher als bis die in Not geratene Taube auffliegt. Siegesbewusst kehrt der Sprössling in die sichere Obhut des Vaters zurück. Was geht in diesem Kind vor?

Ganz klar steckt ein spielerischer Jagdtrieb dahinter, denn das Kind fühlt sich von der Taube in keiner Weise bedroht. Sie hat eine Grösse, die zum Jagdspiel einlädt, wehrt sich nicht, sondern reagiert stets mit Flucht. Kommt noch dazu, dass sich das Kind bestätigt fühlt, wenn es ihm gelingt ganze Scharen von Tauben in die Luft zu schicken. Das gleiche Kind drängt sich aber an den Vater, wenn ein grosser Hund vorbeiläuft oder der Schwan am Strand sich reckt und faucht.

Verletzte Taube erregt Mitleid
Leider verhalten sich die Erziehungsberechtigten selten besser als die Kinder. Entweder ignorieren sie die kindliche Taubenjägerei oder unterstützen sie sogar noch mit Lachen. Auch auf sie wirken Tauben friedlich, unbedeutsam, höchstens lästig.

Ein anderes Beispiel: Es herrscht Hektik und Verkehr in der Stadt. Eine futtersuchende Taube wird von einem Auto erfasst und liegt schwer verletzt am Gehsteigrand. Die Leute eilen achtlos an ihr vorbei. Da kommt ein etwa sechsjähriges Mädchen, von der gestressten Mutter mitgezogen, daher. Es hat die Situation gesehen und will sich der Taube nähern, voller Mitleid sagt es: «Die armi Tuube!» Aber die Mutter packt ihr Kind schnell am Arm und zieht es hinter sich her. Widerstrebend muss sich das Kind wegzerren lassen. Hier hat die inzwischen tote Taube im Kind Mitleid erregt, vielleicht in einem Kind, das sonst durchaus auch spielerisch Tauben nachjagt.

Eine lärmende Schulklasse picknickt in einer Anlage. Bald fliegen Tauben und Sperlinge herbei. Mit schrägem Kopf und mit auf die Kinder gerichteten Äuglein, typische Bettelgeste der Tauben, lösen sie meist den Fütterungstrieb in den Menschen aus. So auch in dieser Situation. Das Herumalbern, Lärmen, Witzereissen hat jäh ein Ende. Liebevoll, teils etwas unsicher, bieten viele Schüler den Tauben nun Brot, Chips, Aufschnitt usw. an. Diese gütliche Betätigung löste in den Kindern Genugtuung und Interesse aus. Mit gezielter Fragestellung holten sie sich bei der Lehrperson Wissen rund um die Tauben ein. Als der Lehrer darauf bestand, dass sie salzhaltige Chips und Aufschnitt nicht verfüttern sollten, wurde diese Anweisung ernst genommen. Hingegen wurden nun grosszügig Reiswaffeln zerkleinert. Ungezwungen hatten diese Jugendlichen nun etwas über Tauben erfahren und betrachteten sie auch respektvoll.

Heranwachsen der Küken beobachtet
In meinem Klassenzimmer pflegten die Primarschüler jahrelang Diamanttauben in der Voliere. Sie lernten den sorgfältigen und behutsamen Umgang mit diesen Ziertäubchen, um die Tiere ja nicht zur Schreckmauser (Federabwurf wegen Stress) zu veranlassen. Rücksichtnahme wurde grossgeschrieben. Sie erlebten, wie nach der pittoresken Balz das Brutgeschäft vorgenommen wurde. Das Heranwachsen der Küken wurde mit Spannung verfolgt, ebenso wie die Jungtauben allmählich von den Eltern aus dem Revier gedrängt wurden. Das gab Diskussionen: Passiert das bei Menschen denn auch? Eine wertvolle, lebenskundliche Lektion ergab sich spontan. 

Auch die Frage, was nun mit den Jungtauben geschehen soll, stand im Raum. Schon bald meldete sich ein Junge, er habe die Erlaubnis von seinen Eltern, die Täubchen heimzunehmen. Bei ihm war das Interesse an Vogelhaltung geweckt worden. Tauben werden heute kaum mehr als Haustiere von Kindern gehalten. Besonders nicht in den Agglomerationen, wo fast kein Platz für Kleintierhaltung ist. 

Barbara und die Lachtauben
Sehr berührt hatte mich das Kindergartenmädchen Barbara, das in seinem Garten eine einfache Voliere unterhielt mit zwei weissen Lachtauben. Barbara hing sehr an diesen schönen Tauben. Mit Unterstützung ihrer Eltern versorgte sie ihre zwei Lieblinge bestens, übertrug ihre kindliche Liebe auf «Prinz» und «Prinzessin». Nach gut zwei Jahren – Barbara ging in die erste Klasse – musste die Familie in eine Wohnung zügeln. Wohin mit den Tauben? Das war ein grosser Kummer für Barbara und ihre Eltern. Ich anerbot der Familie, die in meine weitere Nachbarschaft gezogen war, die Lachtauben aufzunehmen. Eine riesengrosse Erleichterung für Barbara. Bei mir durfte sie weiterhin ihre Lachtauben besuchen und auch pflegen. Jeden Samstag erschien sie bei mir und half mit grosser Leidenschaft meine Kleintierställe zu misten und unterhielt sich mit ihren Tauben.

Im Gegenzug schenkte ich Barbara zwei junge Wellensittiche, die sie in der Wohnung halten durfte. Barbara übertrug nun ihre ganze kindliche Liebe auf die zwei Sittiche und konnte sie zähmen, wie damals ihre Lachtauben. Das war eine gute Alternative für die ganze Familie.