«Touche» (Tauchen), sagt Leo vor sich hin und schiebt einen Ping-Pong-Ball durchs Wasser. Der Achtjährige ist einer von sechs Graupapageien, die bei der Tiertrainerin Lotti Ingold in Höchstetten im Kanton Bern leben. Die 62-jährige zierliche Frau mit den dunklen Haaren führt den Besuch direkt in das der Wohnung angegliederte Vogelzimmer hinein. Normalerweise könnten die Papageien tagsüber frei fliegen und auch in den Aussenbereich hinüberflattern, erzählt sie: «Aber wir könnten kein vernünftiges Gespräch führen. Sie würden uns nicht in Ruhe lassen.»

So sitzen die Graupapageien heute paarweise in ihren Volieren, knabbern an Grünzeug, klettern am Gitter herum und krächzen zwischendurch immer wieder einmal laut, als könnten sie es nicht fassen, dass keine Spielzeit ist. Derweil erzählt Ingold aus ihrem Leben. Ihre grosse Leidenschaft sei das Wildwas­ser-Kajakfahren gewesen, sagt die zweifache Mutter. Wenn ihre Augen nicht schlechter geworden wären, wäre sie noch heute in jeder freien Minute beim Paddeln auf einem Fluss anzutreffen. Weil sie gefährliche Situationen aber nicht mehr gut habe einschätzen können, habe sie das Hobby schweren Herzens aufgegeben. 

Lotti Ingolds «Musterschüler» Chicco-Charly steigt aufs Treppchen, vollführt eine elegante Drehung und steigt dann wieder herunter:

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Alles Vögel aus zweiter Hand
Auf der Suche nach einer neuen Freizeitbeschäftigung begann sich Ingold mit der Haltung von Graupapageien auseinanderzusetzen – und entschied sich, den Schritt zu wagen. Chicco-Charly und Coco-Carla waren die ersten beiden «Secondhand»-Vögel, die Ingold 2004 unter ihre Fittiche nahm. Damals stand die Voliere noch im Büro der familieninternen Schlosserei, in der Ingold neben ihrem Engagement in einer Schützenstube und als Hausfrau und Mutter arbeitete. 

Inzwischen wurde emsig an- und umgebaut, sodass die auf sechs Vögel angewachsene Papageienfamilie (alle aus zweiter Hand) nun über einen grosszügigen Aussen- und Innenbereich verfügt. Ingolds Ehemann hat stabile Wände gezogen, feinmaschige Gitter montiert und sitzfreundliche Stangen angeschraubt. Sauber geputzte Volieren, Spielsachen, Sitz-, Kletter-, Kratz- und Badegelegenheiten sowie Grün- und Knabberzeug sind weitere Hinweise darauf, dass Ingold weiss, was sie macht – und dass sie ihren Graupapageien gibt, was sie brauchen, um in Gefangenschaft gesund und munter zu sein. «Beschäftigung, mentale Stimulation und Verhaltenstraining sind enorm wichtig», erklärt Ingold. Das alles verbessere die Lebensqualität der Papageien, vereinfache die Haltung und sorge nicht zuletzt für eine gute Beziehung zwischen Mensch und Tier. 

Selbstverständlich investiert auch Ingold selber viel Zeit in die Arbeit mit ihren Papageien. In den regelmässigen Trainingseinheiten hat sie den Vögeln beigebracht, auf das entsprechende Signal hin zügig in die eigene Voliere zurückzukehren, auf die Waage zu klettern, in die Tragbox zu steigen oder sich die Krallen feilen zu lassen. Auch medizinisch notwendiges Verhalten wie das Inhalieren von gasförmigen Medikamenten oder das Schlucken von Tropfen hat sie ihnen antrainiert. Das sind alles wichtige Voraussetzungen, um die sensiblen Vögel stressfrei betreuen und tierärztlich angeordnete Behandlungen erfolgreich durchführen zu können. Ingold: «Ich muss dies im Voraus trainieren. Wenn ich warte, bis ein Vogel krank wird, ist es zu spät.» Bunte Klötze in die passenden Löcher oder Geld in ein Sparschwein fallen lassen, die richtigen Schieber ziehen, damit eine Kugel herunterfällt und sogar Farben unterscheiden sind weitere Aufgaben, die Ingolds Vögel eifrig lösen. «Am liebsten würden sie den ganzen Tag mit mir arbeiten und am liebsten alle gleichzeitig», sagt Ingold und lacht. 

Präsentieren, clicken, belohnen
Anfänger begännen am besten mit Targeting («Target» ist englisch für «Ziel»). Diese Methode sei für das Tiertraining absolut grundlegend, sagt Ingold: «Ohne das kommt man nicht weit. Ich kann einem Papagei ja nicht mit blossen Worten erklären, dass er in die Tragbox gehen soll, weil wir zum Tierarzt müssen.» Damit das Training gelingt, müssen die Tiere zuerst einmal lernen, dem Ziel (ein Stab mit einer bunten Kugel vorne dran) zu folgen, indem sie für jede Annäherung mit einem «Click» und einer Leckerei belohnt werden. Beherrscht ein Vogel diesen Schritt, kann er mit dem Target-Stab angeleitet werden, ein gewünschtes Verhalten zu zeigen.

Um ihr Vorgehen verständlich zu machen, holt Ingold den 13-jährigen Chicco-Charly aus seiner Voliere und setzt ihn auf einen Tisch, auf dem ein Becher steht. Ingold hält dem Vogel den Target-Stab vor den Schnabel. Berührt er mit dem Schnabel die Kugel, clickt Ingold und belohnt den Schüler mit einem Sonnenblumenkern. Präsentieren, clicken, belohnen, präsentieren, clicken, belohnen – bis der Becher umrundet ist. Das Signalwort «umrunde» kommt hinzu und nach ein paar Wiederholungen hat der Graupapagei gelernt, dass er auf Ingolds «umrunde» hin um den Becher herumlaufen soll. 

Lotti Ingold hat Chicco-Charly beigebracht, das Konzept «das Gleiche» zu verstehen:

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Jeder ihrer Vögel habe einen anderen Charakter, sagt Ingold und zählt auf: Coco-Carla, die Perfektionistin, die exakt arbeitet, Chicco-­Charly, der alles etwas lockerer nimmt, Lucy, die Nervensäge, die ihren «Gschpänli» im Vorbeigehen gerne noch rasch an den Schwanzfedern zupft, Iduna, die Anhängliche, die auf ihre Bezugsperson fixiert ist und sich vor allen anderen Personen fürchtet, Odin, die Mutige, die über einen grossen Arbeitseifer verfügt, und schliesslich Leo, der sich vor allem zuerst einmal fürchtet – und furchtbar gerne badet.

Auch heute wird Leo seinem Ruf gerecht, ein wenig ängstlich zu sein. Mit schief gelegtem Köpfchen schaut er die ihm noch unbekannte Besucherin skeptisch an. Auf Ingolds Signalwort «ufe» hin stellt der Papagei zögerlich zuerst den einen und dann den anderen Fuss auf die erste Treppenstufe. Seine Aufgabe: Ein steiles Holztreppchen hinauf- und auf der anderen Seite wieder hinunterzuklettern. «Er braucht eine gewisse Anlaufzeit», sagt Ingold, während sich Leo nun Schritt für Schritt über das Hindernis wagt, motiviert durch Lob und Leckerei. 

Kraulen nicht erwünscht
Nun darf Chicco-Charly nochmals ran. Während Leo Schritt für Schritt angeleitet werden muss, kann Chicco-Charly mehrteilige Aufgaben selbstständig absolvieren. Er düst das zuvor von Leo behutsam betrippelte Treppchen regelrecht hoch und wieder runter und vollführt zuoberst erst noch die gewünschte Drehung (siehe Video oben). Für seine Leistung würde man den Musterschüler am liebsten ein wenig im Nacken kraulen – ein Ansinnen, das für die Papageienfachfrau allerdings nicht infrage kommt. «Wer mit einem Tier schmusen will, soll sich eine Katze kaufen», sagt sie entschieden. «Ein Vogel soll einen Vogel als Partner haben. Nur das ist artgerecht und wirklich tierliebend. Alles andere ist purer Egoismus.» Wenn ein auf Menschen geprägter Papagei in die Pubertät komme, drohe er aggressiv oder depressiv zu werden: «Weil der Mensch ihm nicht geben kann, was er braucht.» 

Sie gehe jeden Morgen mit Freuden zu ihren Papageien, sagt Ingold. Gerade hat sie ein neues Ritual eingeführt. Dabei werden alle Volierentüren geöffnet, worauf die sechs Vögel auf ihre Stationen fliegen. Aufgrund der Farbe, der Form und des Standplatzes der Station erkennt jeder seine. Wer zuerst darauf steht, bekommt das grösste Stück Nuss. Danach gibts Frühstück. Während die Vögel essen, wechselt Ingold das Bade- und Trinkwasser, putzt den Boden und verteilt das Beschäftigungsmaterial für den Tag. Auch den Mittag verbringt Lotti Ingold meistens bei den Vögeln. «Es ist so entspannend den Papageien zuzuschauen, wie sie sich zufrieden miteinander beschäftigen oder wie einer im Schatten ein Nickerchen macht. Das ist für mich das Schönste», sagt sie – und man glaubt es ihr aufs Wort.

Lotti Ingold bietet auch Workshops für interessierte Papageienhalter und solche, die es werden wollen, an. Weitere Infos dazu finden Sie hier.