Ein eisiger Wind pfeift über Endingen im Nordosten des Kantons Aargau, es ist bitterkalt. Der Körper ist beim Betreten des ehemaligen Heustadels dankbar für die wohlige Wärme. Die Nase nimmt einen angenehmen Geruch wahr. Fast wie frisches Holz, denkt man. Falsch gedacht. Es duftet nach Weizenkleie. Und in den aufeinandergestapelten roten und grünen Plastikkisten warten nicht Salate, Rüebli oder Gurken auf Abnehmer, sondern wachsen und gedeihen Mehlwürmer. Oder wie Benjamin Steiner präzisiert: die Larven des Mehlkäfers.

Seit bald vier Jahren sind Mehlwürmer, Heuschrecken und Grillen in der Schweiz als Lebensmittel zugelassen (siehe Box). 2018 haben Steiner, Tierarzt und mittlerweile Badener Stadtrat, Tierpflegerin Mina Gloor und Ökonom Christian Bärtsch das Start-up «Ensectable» gegründet und mit der Insektenzucht begonnen. Anfangs zogen sie auch Grillen gross, doch längst konzentrieren sie sich auf Mehlwürmer. Die Insekten durchlaufen die vier Stadien vom Ei, über die Larve und Puppe bis zum Käfer. Und wie beim Huhn stellt sich die Frage, was am Anfang steht – das Ei oder der Käfer. Für die Zucht sind die Stadien untrennbar miteinander verknüpft.

So wuseln die Mehlwürmer und die ausgewachsenen Mehlkäfer

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Die Käfer leben etwa zehn Wochen und haben eine Aufgabe: Eier legen. Aus den etwa einen halben Millimeter grossen Eiern schlüpfen nach einer Woche die Larven. Sie haben einen Panzer aus Chinin, der nicht mitwächst. «Deshalb häuten sie sich bis zu zwanzigmal», erklärt Steiner. 17 Mal sei normal. Nach der letzten Häutung werden aus den Larven Puppen ohne Darm und Beine. «Während der Puppenruhe liegen sie sprichwörtlich einfach herum.» Eine Woche bis zehn Tage später schlüpfen die Käfer, die wiederum Eier legen und den Kreislauf damit schliessen.

«Einmal wöchentlich sieben wir die Eier ab und legen sie in die roten Fleischerkisten», sagt Steiner zum Beginn der Zucht. Die Kisten werden gestapelt und die vorhandenen Türme, in denen sich Larven verschiedenen Alters befinden, wandern eine Position weiter. Drei bis vier Wochen nach dem Schlupf sind die Larven circa fünf Millimeter gross. Die Mehlwürmer, die Steiner zeigt, sind einen Zentimeter lang. Statt herumzuwuseln liegen sie träge da. «Sie sind etwas lahm, es ist ihnen zu kalt», stellt er fest und sprüht Wasser.

Mehlwürmer fressen (fast) alles
Mehlwürmer brauchen Feuchtigkeit und Wärme. Sie heizen sich sogar selber auf. Am liebsten haben sie 30 Grad und 75 Prozent Luftfeuchtigkeit. «Bei uns ist es trockener, meist unter 70 Prozent, da wir sonst Probleme mit Schimmel bekommen könnten», erklärt Steiner. Zum Austausch lasse er dreimal täglich Frischluft in den Raum. Während Steiner redet, ist Bewegung gekommen in die Kiste. Die meisten schlängeln dicht aneinandergedrängt oder übereinander – was typisch ist für Insekten, die auch in der Natur auf engem Raum leben. Dort ernähren sich die Käfer hauptsächlich von Getreide.

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Mehlwürmer sind Allesfresser, sie machen sich selbst über Styropor oder Schaumstoff her. Einzig auf Plastik stehen sie nicht. Blähendes wie Kohl, Lauch oder Zwiebeln würden sie auch vertilgen, «aber sie vertragen es nicht gut». Man könnte ihnen auch Salat oder Gemüse geben, nicht aber Abfälle. Im Zuge der Lehren aus der BSE-Krise ist genau geregelt, was man Tieren, die zur Lebensmittelproduktion eingesetzt werden, füttern darf.

Die «Ensectable»-Mehlwürmer bekommen Biertreber und Weizenkleie in Bio-Qualität. Doch während es nie ein Problem ist, genug des Mühlennebenproduktes Weizenkleie zu bekommen, ist mit der Corona-Pandemie der Bierkonsum eingebrochen. Brauereien produzieren deshalb weniger und seltener. Steiner erhielt eine Ausnahmebewilligung von Bio-Suisse, auch Nicht-Bio-Treber zu verfüttern: «Aber ich habe sie nicht gebraucht, es ging immer genau auf.»

Eine Frage des Esserlebnisses
Ausgemästet sind die Bio-Mehlwürmer nach zwölf Wochen. Dann trennt eine Maschine Futter, Kot und Tiere voneinander und sortiert das «Ensectable»-Team die Larven nach Grös­se. «Geerntet werden die Drei-Zentimeter-Langen.» Getötet werden sie in kochendem Wasser. Über schonendes Töten hat sich Tierarzt Steiner viele Gedanken gemacht und mit verschiedenen Experten darüber geredet. «Über das Schmerzempfinden von Insekten, die so weit weg sind von uns, weiss man kaum etwas. Deshalb werden wir wohl nie wissen, welche Tötungsart am schonendsten ist.»

Grundsätzlich gelte: Je schneller je besser. Weil der Mehlwurm im Gegensatz zum Hummer sehr klein sei, gehe das auch schnell. «Innert 0, 04 Sekunden liegt seine Kerntemperatur bei 70 Grad», erklärt Steiner, «dann ist er quasi gar und die Nerven sind zerstört.» «Ensectable» habe ein eigenes Verfahren mit mehreren Kochschritten entwickelt.

Essbare InsektenIn Asien, Afrika und Südamerika ist es wie selbstverständlich, Insekten auf dem Speiseplan zu haben. Gut 2000 Arten sind essbar. Die Zucht braucht weniger Wasser und Futter und gilt als ökologischer als die herkömmliche Fleischproduktion. Während Insekten in der EU nicht erlaubt sind für den menschlichen Verzehr, sind in der Schweiz seit Mai 2017 Mehlwürmer, europäische Wanderheuschrecken und Grillen als Lebensmittel zugelassen.

Als Tierfutter sind Insekten derzeit nur für Haustiere und für Fische in Aquakultur zulässig. Sollte die EU das Verbot für die Geflügel- und Schweinezucht aufheben, kann die Schweiz nachziehen.

200 Kilogramm Bio-Mehlwürmer produziert «Ensectable» monatlich. Steiner probiert jede Charge. «Da sie am Ende vor allem Biertreber fressen, schmecken sie recht herb.» Die Firma «essento» verarbeitet sie zu Burger. «Relativ trocken, geschmacklich gut», urteilt Steiner, was die «Tierwelt» bestätigen kann. Gebraten sind die gut gewürzten Burger knusprig und schmecken nach Tomaten und Gemüse. Man merkt, dass sie Fleisch enthalten – doch wer nicht weiss, dass es Insekten sind, kommt nicht darauf.

Sie liefern hochwertige Nährstoffe, sind reich an Proteinen, Vitaminen und Mineralien. Dennoch verharren Burger, Proteinriegel und Snacks aus Insekten in der Nische. Dies hat nach Meinung Steiners weniger damit zu tun, dass sich Schweizer davor ekeln, Insekten zu essen. «Beim Apéro nach Führungen sind 19 von 20 bereit, es zu probieren, auch wenn es sie dann nicht von den Socken haut.»

Entscheidend ist also der Geschmack. «Die Konkurrenz zum herkömmlichen Fleisch ist gross. Wir müssen es schaffen, ein positives Esserlebnis zu erzeugen», sagt Steiner. Dafür  brauche es aber noch viel Forschung, etwa darüber, wie man die Chininhäutchen, die man beim Essen spüre und die das Produkt trocken machen, einfacher loslösen könne. Oder die industrielle Umsetzung von Alternativen zu Burger wie Salami oder Hackfleisch, deren Proteinanteil Mehlwürmer liefern könnten.

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