Von aussen wirkt das Gebäude in einem Emmentaler Dorf leicht abgenutzt und unscheinbar. Doch wer das Glück hat, hier eintreten zu dürfen, senkt automatisch die Lautstärke – fast so, wie wenn man eine Kathedrale betritt: Hohe Räume, Steinmauern und Torbögen, dazwischen Gestelle, auf denen riesige Emmentaler-Laibe ruhen, Greyerzer-Käse heranreifen und andere Käsesorten auf den Tag warten, an dem sie für gut genug befunden werden, um nach England, Japan, die USA oder Deutschland geliefert zu werden. Inmitten dieser Herrlichkeiten steht Walo von Mühlenen, ein Grandseigneur der Käsekunst. Er ist Affineur, das heisst, er veredelt Käse ausgewählter Käsereien. Der Mann verfügt über tiefgehende Kenntnisse in der Käseherstellung, kennt die unterschiedlichen Viehrassen, das besondere Klima der jeweiligen Gegend und die speziellen Bedingungen der Käsereien.

«Die Beziehungen zu den Käsern, ihrer Familie und manchmal auch noch zu den Bauern des jeweiligen Ortes hat sich oft über Jahrzehnte entwickelt», erzählt von Mühlenen. Das Wissen der Familie von Mühlenen wurde seit 1867 von Generation zu Generation weitergegeben. «Meine Vorfahren sind seit jener Zeit als Affineure tätig.»

Künstler und Wissenschaftler
Mit den Bauern respektive ihren Kühen und deren Milch fängt alles an: Käse ist nur so gut wie die Milch, aus der er gemacht wird, ist eines der unumstösslichen Gesetze der Käsekunst. «Ein Käser muss seine Bauern kennen, muss mit ihnen in einem ständigen Austausch über die Milchqualität, die Behandlung der Kühe und des Futters sein», sagt von Mühlenen. Rüben sind beispielsweise tabu. «Der Käse kann dann nämlich eine bittere Note bekommen.» Fügen die Bauern dem Futter aber etwas Leinsamen bei, wird der Käseteig geschmeidiger.

Es ist unter anderem das Wissen um solche Feinheiten, die den Affineur ausmachen, der mit seinen Käsen unzählige Medaillen an Käse-Weltmeisterschaften gewonnen hat. «Bis ein Käse weltmeisterschaftstauglich ist, bis ich ihn in mein Sortiment aufnehme, arbeite ich mehrere Jahre intensiv mit dem Käser zusammen, um die nötige Qualität zu erreichen», sagt von Mühlenen.

Doch die beste Milch nützt nichts, wenn sie schlecht behandelt wird. «Sie muss vom Bauern direkt und vor allem ungekühlt in die Käserei gebracht werden. Gekühlte und über weite Strecken transportierte Milch verliert an Qualität.» Einmal in der Käserei, übernimmt der Käser oder die Käserin die Verantwortung für die Milch und die tägliche Verarbeitung. «Die Besten ihrer Gilde sind eine Mischung aus Künstlern und Wissenschaftlern», sagt der Affineur. «Sie notieren jedes Mal jedes Detail des Verkäsungsvorgangs, um ein paar Monate später eruieren zu können, warum ein Käse so und nicht anders geworden ist. Nur wer extrem präzise arbeitet, kann allfällige Fehler, und mögen sie noch so gering sein, ausmerzen.» Sogar schwüles Wetter oder ein Kälteeinbruch kann Einfluss auf die Milch und die Käsewerdung haben.

In der Käserei wird die Milch dickgelegt. Darunter versteht man das Einlaben. Sobald das Lab – ein Enzym aus dem Magen von Kälbern, Ziegen, Schafen oder von Pilzen – zugegeben wurde, darf die Milch nicht mehr gerührt werden, bis sie dick und fest ist. Neben den Milchsäurebakterien ist die Auswahl des Labs entscheidend für den Geschmack des Käses. Das Ergebnis der Dicklegung ist eine feste Masse. Mit der Käseharfe wird diese Masse zum Käsebruch zerschnitten. Der Bruch wird gerührt und je nach Käsesorte weitererwärmt, in Formen abgefüllt und gepresst. Normalerweise lagert und pflegt der Käser seine Käse noch einige Monate im eigenen Keller, bevor er in ein Reifelager kommt.

Unterschiedliche Behandlung
Von Mühlenen arbeitet nur mit Käsern, die Rohmilch verarbeiten. «Käse ist etwas Lebendiges. Durch Pasteurisieren, Thermisieren oder gar das Bactofugieren, also die Mikrofiltration von erhitzter Silomilch, wird dem Käse alles Lebendige genommen.» Doch von Mühlenens Käse lebt. Und wie. Während in industriellen Käselagern eine Temperatur von etwa acht Grad herrscht, zeigt das Thermometer in der Käsekathedrale 14 Grad an. Das hat seinen Grund: Auf der Käserinde leben eine Vielzahl von Mikroorganismen, welche unterschiedliche Aufgaben übernehmen. Sie zersetzen Eiweisse und Fette und entwickeln so flüchtige Schwefel- und Ammoniak-Verbindungen, die etwa für den intensiven Geruch einiger Käsesorten verantwortlich sind.

Käse kann unterschiedlich reifen. Einige Sorten wie Greyerzer oder Appenzeller benötigen auf der Rinde entsprechende Bakterien, andere wiederum entwickeln ihre Aromen mit der Hilfe von Schimmelpilzen. Camembert oder Brie gehören dazu. Hartkäse oder Sbrinz werden trocken gereift und nur mit Salzwasser geschmiert. Mit Zusatzbehandlungen durch Most, Wein oder Kräutersulz kann der Geschmack eines Käses zusätzlich beeinflusst werden. 

Höhepunkt der Reifung erkennen
Aber warum herrschen in von Mühlenens Käsekeller so hohe Temperaturen? «Ganz einfach», sagt der Affineur, «wenn es den Pilzen und Bakterien – dem sogenannten Mikrobiom – zu kalt ist, arbeiten sie nicht. Der Käse lagert einfach vor sich hin und trocknet langsam aus.» Abhängig ist die Reifungsdauer von der Sorte und der Grösse der Käse. Sie variiert von wenigen Tagen bis zu mehreren Monaten und Jahren. In dieser Zeit entwickeln sich verschiedene Aromen. Für die gängigen Käsesorten sind die Regeln in einem Pflichtenheft festgehalten.

Aber alle Theorie ist grau und darum braucht es die hohe Kunst des Affineurs, um zu bestimmen, ob sich ein Käse auf dem Höhepunkt der Reifung befindet. Deshalb greift von Mühlenen zu einem kleinen Käsehammer, zieht einen Laib Greyerzer aus dem Gestell, klopft und kann am Ton erkennen, ob der Käse gesund ist – fast wie beim Arzt, wenn dieser Lungen- und Herztöne kontrolliert.

Dann nimmt der Affineur mit dem Käsebohrer eine Probe. Schon beim Herausziehen aus dem Käse zeigt sich, wie der Teig ist: Zu trocken? Zu feucht? Zu kleine oder zu grosse Löcher? Von Mühlenen bricht ein Stück des Bohrlings ab, schaut, riecht und probiert den zweijährigen Käse. Nach einem Moment, der fast eine Ewigkeit dauert, hellen sich seine Gesichtszüge auf: «Gut», sagt er, «sehr gut.» 

www.affineurwalo.ch

Der Text erschien erstmals 2019 in der «Tierwelt».