Seit Stunden tuckert das Boot durch trübe Fluten flussaufwärts. Das Wasser reicht fast bis zum Rand des länglichen Schiffs, der Bug schneidet durch sedimentreiches Wasser, das gefärbt ist wie Milchkaffee, der Motor rattert ständig «zepezepe». Ab und zu taucht am Ufer ein Bretterverschlag auf Stelzen auf, Kinder winken, am schlickigen Strand flickt ein Mann ein Netz, neben ihm liegt ein schwarzer Hund. Ansonsten beidseitig des sich schlängelnden Rio Madre de Dios in Peru: Lianen schlingen um Urwaldriesen, auf Flussbänken wachsen die dünnen Stämme junger Cecropia-Bäume.

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Nun trennt sich der Fluss, das längliche Holzboot steuert in den kleineren Arm, kämpft gegen die Fluten, der Aussenbordmotor tuckert und rüttelt, dunkle Wolken schieben sich vor die brennende Sonne, Wind kommt auf. Und schon prasselt Regen hernieder, die Wasseroberfläche scheint zu brodeln, das Pflanzendickicht zu beiden Seiten verschwindet hinter einem grauen Schleier. Doch der Spuk ist schnell vorbei, erste Sonnenstrahlen obsiegen, scheinen den Regen aufzusaugen, letzte Nebelfetzen, die über den Fluss wabern, lösen sich auf.

Plötzlich heisere, krächzende Schreie am hellblauen Himmel. «Wir sind im Araland», sagt Edwin Salazar Zapata und schaut den drei Hellroten Aras nach, wie sie über den Kronen verschwinden. Der Bootsführer kann nicht himmelwärts schauen, denn er muss einem Baumstamm ausweichen, der mit Wurzelwerk im Rio Tambopata treibt. Bald darauf gibt er acht, dass das Schiff nicht auf einer Sandbank festsitzt, und versucht, kleinere Stromschnellen sicher zu durchfahren.

Spektakel am frühen Morgen
Immer wieder krächzen Aras. Gelbbrust-, Dunkelrote und Hellrote Aras fliegen paarweise oder zu dritt dem Fluss entlang oder lösen sich unvermittelt mit viel Krach aus dem Grün eines Baums. «Das sind Familienverbände, Vater, Mutter und Kind», sagt Edwin. Sie legten zwei Eier, doch nur ein Junges zögen sie meist auf. «Es fliegt dann ein Jahr lang mit seinen Eltern und lernt von ihnen», erklärt der peruanische Biologe.

Er ist unterwegs in die Araforschungsstation Tambopata am Oberlauf des gleichnamigen Flusses im peruanischen Departement Madre de Dios. Als die Sonne hinter einer Bergkette verschwindet, sticht das Boot Richtung Ufer. Jetzt wird ein Holzsteg sichtbar, der sich zwischen Pflanzen in die braunen Fluten reckt. «Zepezepe» stottert es ein letztes Mal, bis der Motor erstirbt. An seine Stelle tritt das Zirpen, Sirren und Summen der Insekten, der Herrscher der Tropennacht.

Ihre Geräuschkulisse reisst während der ganzen Nacht nicht ab. Noch vor Sonnenaufgang sticht das Boot wieder in die schwarze Nacht, nur Lichtlein von Taschenlampen und der Motorenlärm verraten das Unterfangen. Schon wenige Minuten später knirscht der Bug auf rötlichem Sand. Das Boot sitzt fest, Edwin – brauner Teint, Schlapphut, beiges Langarmhemd und Hose – springt in Gummistiefeln ins seichte Wasser, geht an Land und setzt sich auf einen Baumstamm.

Von Osten her glimmt Licht, rasch wird es heller. «Da kommen sie», ruft der Biologe, als er quäkende hohe Schreie in der Ferne hört. Tatsächlich flattern Hunderte schwarzer Vögel von den Anden her herbei und kreisen über der Sandbank. Es werden immer mehr. Edwin weiss Bescheid: «Diejenigen mit den hellen Flügelunterseiten sind Rotbaucharas, die mit den dunklen Rotbugaras.» Die beiden Gruppen der Kleinaras vermischen sich am immer heller werdenden Himmel.

Edwin starrt mit seinem Feldstecher in Richtung der rötlichen Felswand am Flussufer und ruft: «Ja!» Vier Rotbaucharas haben sich an der Felswand festgekrallt, zwei fliegen wieder weg, andere flattern ganz nahe herbei und kreisen noch. Doch plötzlich scheint der Bann gebrochen. Immer mehr landen an der Steilwand. Als die Sonne den Felsen in leuchtendes Rot taucht, sind es schon Hunderte.

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Heiserer Schrei im Palmensumpf
Weiter rechts haben sich wenige Hellrote Aras an die Felswand gekrallt. Jetzt erst entdeckt Edwin oberhalb des Pulks Natterer-Amazonen, grüne korpulente Vögel mit gelber Stirne, und Schwarzohrpapageien, kleinere Vögel mit kurzem Schwanz, grünem Mantel und ansprechend blauem Kopf mit zwei schwarzen Punkten in der Ohrgegend. Zuletzt macht er eine Seltenheit aus: Goldwangenpapageien. Diese exquisiten Besonderheiten des peruanischen Tieflandregenwalds mit goldfarbenen Federn beim Wangenbereich am Schwarzen Kopf sind in der Vogelhaltung gänzlich unbekannt. 

Treffpunkt all dieser Arten sind sogenannte Colpas oder Lehmlecken – spezielle Orte, wo Mineralien und Salze zutage treten. Man geht davon aus, dass die Papageien damit ihren Mineralienbedarf decken, dass sie mit den Salzen aber auch Gifte neutralisieren, die sie durch den Verzehr von unreifen Samenkapseln aufnehmen. Nach einer halben Stunde, wenn das Sonnenlicht gleissend wird, ist der Spuk vorbei, die Amazonen, die kleinen und die grossen Aras ziehen ab. Es ist April, die Regenzeit klingt langsam ab, die Colpas werden vermehrt besucht.

Abseits des Hauptflusses gibt es Altwasserseen. Dort flattern und schnarren in den Ästen am Ufer die eigentümlichen Hoatzins, deren Junge sogar, wie ein Archaeopteryx, kleine Krallen an den Flügeln haben. Damit können sie sich im Astwerk, das über das Wasser ragt, festhalten oder sich sogar aus dem Wasser ziehen, wenn sie bei Gefahr hineinspringen. Mitten im Altwassersee tauchen Köpfchen auf mit grossen, weissen Kehlflecken. Riesenotter machen auf der Jagd nach Fischen eine Pause und schauen neugierig zum dahindümpelnden Kanu. 

Um Tambopata bilden sich auch Palmensümpfe. Dort gedeiht die Buriti-Palme (Mauritia flexuosa). Am Nachmittag schwirrt die Hitze über dem modrig riechenden Wasser. Es schmatzt bei jedem Schritt, wenn man mit Anstrengung die Gummistiefel aus dem Schlick zieht. Plötzlich ein heiserer Schrei aus einer Palmenkrone. Ein Gelbbrustara warnt. Edwin blickt nach oben: «Hier, sie nisten in diesem dünnen, hohen Stamm einer abgestorbenen Palme.» Er zeigt in den milchigen Himmel über dem Sumpf. Dünne, lange Stämme ragen wie Kamine empor.

Besonderheiten im Varzea-Wald
Tatsächlich sitzt zuoberst auf einem Stamm ein Gelbbrustara mit schmutzig gelbem Brustgefieder – ein Zeichen, dass der Vogel immer wieder in den oben offenen Palmenstamm klettert, um sein Junges zu versorgen. Vermutlich ist es das Weibchen, und das Männchen hat gegenüber in der Palmenkrone gewarnt. Der Stamm könne drei, vier Meter tief sein, das Junge würde dann mühsam emporklettern, wenn es nach drei Monaten so weit sei, ausfliegen zu können.

Dann ist es besonders gefährdet. Die Harpie, der grösste Greifvogel des südamerikanischen Waldes, erbeutet unerfahrene Aras. Wenn alles gut geht, fliegt der Jungvogel aber ein gutes Jahr lang mit seinen Eltern über das Kronendach des Regenwaldes, vielleicht auch zur Colpa, sicher aber entlang des Tambopata-Flusses. Man weiss nämlich, dass sich Aras im Flug an Flussläufen und Überständern, also grossen Bäumen, die das Kronendach überragen, orientieren.

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Der Tambopata-Fluss entwässert in den Madre de Dios, der in den Rio Madeira fliesst und dieser wiederum in den Amazonas. Der Oberlauf des Amazonasstroms in Brasilien heisst Rio Solimões. Bei Tefé im brasilianischen Bundesstaat Amazonas stehen die Wassermassen schier. Der Varzea-Wald, ein Überschwemmungswald, ist auf die Fluten ausgerichtet, die ihn jährlich während der Regenzeit erreichen, sodass das Wasser seinen Höchststand erreicht. Im April findet das Leben nur noch in den Baumkronen statt, so hoch steht das schwarze Wasser. 

Als der Regen nachlässt und sich der graue Vorhang langsam öffnet, gibt er die Sicht auf Baumkronen preis, die zu beiden Seiten des Flusses aus dem Wasser ragen. Gellende Schreie hallen über den Strom. In einer Krone sitzt ein Schwarm Blaubartamazonen. Die grünen Papageien freuen sich über die Sonnenstrahlen, strecken ihre Flügel aus, flattern, plaudern. Als einige abfliegen, leuchtet ein scharlachroter Rumpf. Diese Amazonenart kommt entlang der Flussläufe des Varzea-Waldes vor.

Auch Hellrote Aras kreuzen fliegend die zahlreichen Flussarme, die sich wie Blutadern verästeln. Ohne die Kaboklos, die Einheimischen dieser Gegend, wäre man hoffnungslos verloren. Sie finden den Weg mit ihren Kanus, gelangen in verträumte Seen mit Victoria-Seerosen und spüren spärliche Landrücken auf. Dort wohnen sie in Bretterhäusern, Jungpflanzen liegen jetzt in den Kanus. Sie werden sie, wenn sich die Fluten zurückziehen, in fruchtbaren Boden pflanzen und ernten, bevor sich die Wassermassen erneut Richtung Osten schieben.

Wasser bestimmt den Takt
Hinter einer ausladenden Baumkrone mit ins Wasser getauchten Ästen, kommen plötzlich Tuisittiche zum Vorschein, die sich über die pinselartigen Blüten des Munguba-Baums hermachen. Diese wilde Kakaoart wächst endemisch im Varzea-Wald.  Zwei Moschusenten sitzen auf einem dicken Ast über dem Wasser, weitere verziehen sich schwimmend im Blattgewirr des Sumpfs. Platsch! Immer wieder springt ein grosses, helles Tier wie ein verwunschener Bote in einem Bogen aus dem Wasser, ein Amazonasdelphin. Durch Baumkronen hangeln sich gemächlich Dreizehenfaultiere. Im Gegensatz dazu eilen die Totenkopfäffchen im Trupp durch das Astgewirr. Rotbugaras, Müller-, Venezuela- und Gelbwangenamazonen flattern immer mal wieder mit schnellen Flügelschlägen über den Varzea-Wald. 

Im tropischen Südamerika bestimmt das  Wasser den Takt. Prasselnde Regenschauer, reis­sende Flüsse, die sich von West nach Ost ihren Weg suchen, träge, breite Fluten und riesige Überschwemmungsgebiete im Tiefland formen Lebensräume voller Pflanzen für den kleinen, grünen Sperlingspapagei bis zum bunten Ara, der wie ein Drachen am Himmel wirkt. Die Nacht schleicht sich nicht an, sondern kommt am Äquator plötzlich. Insekten sind jetzt wieder die Hauptakteure, an den Ufern blitzen überall im Schein der Taschenlampe Kaimanaugen auf. Pralles Leben zu jeder Stunde am Wasser, bis mit dem ersten Licht wieder Papageien krächzen und gellen, sich aus dem Grün lösen und letzte Nebel in den Kronen verschwinden.