Es waren einmal ein Löwe, ein Leopard, eine Hyäne und ein Esel. Es hatte lange nicht geregnet und es herrschte eine grosse Dürre. Hatte einer von ihnen gesündigt und Gott strafte sie alle? Vielleicht sollten sie um Vergebung bitten? Die Raubtiere legten nacheinander ihre Geständnisse ab: Der Löwe hatte einen Ochsen gerissen, der Leopard einer Ziege die Gurgel durchgebissen, die Hyäne ein Huhn aus dem Dorf gestohlen. Aber immer beruhigten sie sich gegenseitig: «Nein, nein, das ist keine Sünde!»

Die Reihe kam an den Esel. Er überlegte lange. «Einmal traf mein Herr einen Freund und plauderte mit ihm», sagte er dann. «Ich nutzte die Pause, um am Wegrand ein paar Blumen zu knabbern.» Der Löwe, der Leopard und die Hyäne schüttelten empört die Köpfe: «Das ist eine schwere Sünde! Du bist schuld an unserem Elend!» Dann stürzten sie sich auf ihn und frassen ihn.

In dieser alten äthiopischen Fabel steckt Weisheit, aber auch eine grosse Ungerechtigkeit: Dem Grautier, entgegen seinem Image ein sozial intelligentes und empfindsames Lebewesen, ist von alters her keine glorreiche Rolle zugedacht. Dabei ist er bis heute für rund 500 Millionen Menschen von grosser Bedeutung. Eine von ihnen ist die Bauersfrau Fantu Hamiu in Abaya, einem südlichen Distrikt in Äthiopien. Die 40-jährige Mutter erhielt einen Mikrokredit des Schweizer Hilfswerks Menschen für Menschen (MFM) – und erwarb mit umgerechnet 140 Franken einen Esel.

«Wir nennen ihn Grauer», erzählt sie in ihrem Lehmhaus, während draussen ein Wolkenbruch niedergeht. Die Tropfen fallen in ohrenbetäubendem Stakkato auf das Blechdach. «Er bekommt Gerste, wir bringen ihm frisches Gras, manchmal auch Maiskolben», ruft Fantu Hamia gegen den Lärm an: «Unser Grauer soll es gut haben bei uns!»

Erfolgreich dank Grautier
Das ist keine selbstverständliche Haltung in Äthiopien, wo viele Esel der rund neun Millionen Esel – mehr als in jedem anderen Land der Welt – ein unwürdig hartes Dasein ertragen müssen. Die Besitzer muten ihnen schwere Lasten von 50 Kilogramm zu. Manchmal auch bis zu 150 Kilogramm. Die Tiere schleppen Holz, Getreidesäcke und Wasserkanister auf ihren Rücken, und oft tragen sie auch vor Schwäche wankende Kranke auf dem Weg zu einer weit entfernten Gesundheitsstation.

Selbst mit schwersten Lasten wandern sie in vier Stunden noch 20 Kilometer weit. Wo es holprige Pisten und Strassen gibt, spannt man sie vor rumpelnde Karren, so verzehnfacht sich ihre Transportleistung, teils bewegen sie mehr als eine Tonne Lasten.

Viele Eselhalter betreiben so Raubbau an ihrem wichtigsten Besitz. Denn ein Ausfall des Lasttiers trifft in der Folge die Arbeitskraft und mitunter die Gesundheit der Menschen: «Hast du keinen Esel, bist du der Esel!», lautet ein äthiopisches Sprichwort. Dann sind es die Frauen, die als Lastesel leiden. Traditionell ist es ihre Rolle, Wasser von weit entfernten Wasserstellen herbeizuschleppen, Brennholz in die Hütten oder landwirtschaftliche Produkte auf den Markt zu tragen. 

Für Fantu Hamia ist das vorbei. Sie wurde dank ihres «Grauen» von einer Hausfrau zur erfolgreichen Spediteurin. Der Esel zieht einen Karren, der aus alten Achsen und Felgen zusammengeschweisst ist. Ein Polster aus Jutesäcken schützt den Rücken des «Grauen». Er soll sich an der Deichsel nicht wundscheuern. Hamias Sohn ist der Kutscher. Er steht auf der Ladefläche wie ein Lenker auf einem antiken Streitwagen: Mit den Knien lassen sich die vielen Schlaglöcher abfedern, im Sitzen täten ihm alle Knochen weh. 

Besonders in der drei Monate andauernden Erntezeit verdient Fantu Hamia mit Mais- und Kaffeetransporten vom Dorf zum Markt jeden Tag umgerechnet dreieinhalb Franken. Das ist viel Geld in einer Region, in der ein Tagelöhner nur einen Franken verdient. «Ich konnte meinen Kredit ohne grosse Mühe zurückzahlen», sagt Fantu Hamiu. «Jetzt kann ich den vollen Verdienst für Lebensmittel und Waren des täglichen Bedarfs einsetzen. Und ich kann meine Kinder in die Schule schicken!»

Widerstand gegen den Ausverkauf
Doch den Grautieren in Afrika – und ihren Besitzern – droht Gefahr aus China. Denn die dortige medizinische Industrie verlangt nach Eselhäuten (siehe «Tierwelt» Nr. 20 / 2017). Rund 5000 Tonnen produziert China jährlich und verkocht dafür die Häute von über vier Millionen Eseln. Das treibt die Preise der Esel in Afrika in die Höhe. Viele Familien können sich deshalb keine Esel mehr leisten.

In Äthiopien scheint der Widerstand gegen den Ausverkauf jedoch erfolgreich zu sein. «Esel zu schlachten, das passt nicht zu unserer Kultur», erklärten die lokalen Würdenträger. Die äthiopische Regierung verhängte ein Ausfuhrverbot. Dadurch nutzen die Esel weiter den armen Familien, auch in den MFM-Projekten. In der Savanne des Afar-Dreiecks beispielsweise haben Frauen aus Hirtenfamilien Mikrokredite erhalten. Manche der Hirtinnen beginnen damit einen Kleinhandel. Sie bringen Zucker, Salz, Kaffee, Seife und andere Waren des täglichen Bedarfs aus den Städten in die weit verstreuten Nomadenhütten: auf den Rücken ihrer treuen Grautiere, die so geduldig und genügsam durch die Weiten der Savanne wandern. 

Fantu Hamiu nutzt ihr gewonnenes Prestige als erfolgreiche Kleinspediteurin im Dorf  anderweitig. Sie hat sich von dem  Schweizer Hilfswerk in Familienplanung ausbilden lassen und informiert Nachbarinnen nun über Verhütung: «Früher hiess es, je mehr Kinder, desto besser. Aber das ist falsch! Ihr müsst die die Zahl der Kinder planen, um ihnen eine Zukunft zu ermöglichen!» Wer sein eigenes Geld verdient, kann seine Interessen und die der Töchter selbstbewusst vertreten: Auch das hat der Esel Fantu Hamiu ermöglicht. «Verstehen Sie jetzt, warum wir unseren Grauen gut behandeln?», fragt sie und lacht. Sie ruft das Tier, zutraulich kommt es herbei und frisst ihr die Gerstenkörner aus der Hand. 

www.mfm.ch