Früher Morgen in der Nutztierklinik des Tierspitals Zürich. Im Stall stehen oder liegen etwas über 20 Kühe. Sie sind frisch gemolken und futtern nun Heu. Einige hängen am Tropf, die Infusionen versorgen sie mit Flüssigkeit, Elektrolyten oder Glukose. Die meisten haben seltsame Frisuren: Für die Operationen wurden ihre Bäuche stellenweise geschoren. Das Spital verfügt zwar über eine Weide, die meisten Tiere müssen aber im Stall bleiben: «Sie brauchen Boxenruhe und müssen intensiv überwacht werden», sagt Christian Gerspach, Leiter der Abteilung für Wiederkäuermedizin.

Punkt acht Uhr beginnt er jeden Morgen mit dem Stallrundgang. Die Assistenzärztinnen Seraina Jaeger und Carina Oschlies berichten ihm über den Stand der Dinge. Rechtseitige Labmagenverlagerung, heisst es bei einer Kuh. Doch seit der Operation geht es ihr viel besser; sie steht ruhig da und frisst vor sich hin. Bei ihrer Nachbarin ging die Euterschwellung zurück. Die Ärzte sind zufrieden. Noch ein bis zwei Tage bleiben muss die Kuh mit einer Anämie, die sich just bei der Besprechung ihrer Krankengeschichte erleichtert. In hohem Bogen schiesst der Kot durch die Luft, was Christian Gerspach mit einem trockenen «der sieht jetzt aber schön aus» kommentiert. Was in diesem Fall «nicht krank verändert» bedeutet.

Drähte, Büchsen, Brillengestelle
Dies alles sind klassische Fälle für die von ihm geleitete Innere Medizin. Kühe werden häufig wegen Magen-Darm-Problemen, Mastitis, Gebärmutterentzündungen oder Stoffwechselerkrankungen eingeliefert. «Rund um die Geburt sind Kühe am empfindlichsten», erklärt Gerspach. Es sei wichtig, die Tiere gut zu überwachen, «damit sie gut durch diese Phase kommen». Dennoch könne der Labmagen nach einer Geburt aufgasen, links oder rechts vom Pansen hochsteigen und müsse operativ wieder an seine Stelle gebracht werden.

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Unters Messer musste auch die Braunvieh-Dame Sierra. Aus ihrem Netzmagen haben die Ärzte einen Draht geholt. Littering ist ein zunehmendes Problem, regelmässig verschlucken Kühe Sachen, die nicht in ihren Verdauungsapparat gehören. «Rinder haben eine starre Oberlippe und fressen sehr schnell. Da kann es passieren, dass etwas mitflutscht», erklärt Christian Gerspach. Oberarzt Thibaud Kuca ergänzt, sie hätten in Kuhmägen Nägel, Büchsen und selbst Brillengestelle gefunden. «Am schlimmsten sind die ganz kleinen Sachen, die man fast nicht sieht.»

Der aktuelle Fall zeigt, wie gefährlich solche Fremdkörper für die Tiere sind. Sierra hat trotz zehntägiger Antibiotika-Kur immer noch Fieber. Den abklärenden Ultraschall lässt sie ruhig über sich ergehen. «Braunvieh ist braver als andere Rassen, die sich nervös hin und her bewegen und fester angebunden werden müssen», erklärt Kuca, während er mit der Sonde der kahlen Flanke der Kuh entlangfährt.

Grenzen des Machbaren
Gespannt blicken Thibaud Kuca und Christian Gerspach auf den Bildschirm. Ihnen gefällt nicht, was sie sehen. Der Bauchraum ist anhaltend entzündet. «Der Draht hat offensichtlich schon sein Unwesen getrieben», sagt Gerspach. Ein Abs­zess sei eine Komplikation, doch unter günstigen Umständen könne man ihn über einen Katheter entleeren. Es ging gut aus: Zwei Wochen später berichtet der Abteilungsleiter von der Heilung Sierras. Sie ist wieder zu Hause.

Hightech fürs ViehUltraschall und Röntgen sind in der Diagnostik nicht mehr wegzudenken und längst Routine. «Die Ultraschalluntersuchung des Rindes wurde zu grossen Teilen in Zürich entwickelt» , sagt Christian Gerspach. Die Computertomografie (CT) wird laut Gerspach bei Rindern wegen ihrer Grösse nur bei Untersuchungen des Kopfes und der Gliedmassen eingesetzt. Dabei müssten die Tiere narkotisiert werden. «Kürzlich haben wir aber die CT-Untersuchung im Stehen eingeführt», erklärt Gerspach. Dabei werde die Kuh nur sediert (beruhigt). Damit sie sich nicht im falschen Moment hinlege, stehe sie in einem Netz. Dieses Verfahren,
so der Leiter der Inneren Medizin der Wiederkäuerklinik, sei für die Patienten schonender und für den Besitzer kostengünstiger. 

Keine Rettung dagegen gab es für die Holsteiner-Kuh, die wegen Schluckproblemen nicht fressen konnte. Auch das Röntgen ihres asymmetrischen Unterkiefers gab keinen Aufschluss darüber, was ihr fehlte. «Wenn ein Tier nicht auf die Therapie anspricht oder wenn der Schaden so gross ist, dass keine Therapie helfen kann», umreisst Gerspach die Grenzen der Behandlungsmöglichkeiten. Dann werden die Tiere eingeschläfert. Schlachten ist oft keine Option, da die Tiere Medikamente bekommen haben. «Doch in der Regel heilen wir sie.»

So auch Strupf. Den Zwergziegenbock plagten Harnsteine. Fast so gross wie Smarties waren sie und wie eine Perlenkette in der Harnröhre aneinandergereiht. Nun, einige Tage nach dem Entfernen der Steine, geht es Strupf ganz offensichtlich besser. Neugierig schaut er die Ärzteschar an und trottet später bereitwillig hinter der Pflegerin her, die ihn zum Ultraschall bringt. Dort wird er doch etwas bockig. Ungeduldig zieht er am Halfter, lässt die Untersuchung schliesslich aber dennoch zu. Was nur zu seinem Besten ist, denn der Befund lautet: Alles in Ordnung, keine Steine mehr, Strupf darf nach Hause.

Tägliche Absprache mit Besitzern
Der Zwergziegenbock ist an diesem Tag das einzige Nicht-Rindvieh. Was laut Gerspach eine repräsentative Belegung ist: 80 bis 90 Prozent der stationären Patienten, die aus der ganzen östlichen Deutschschweiz von Graubünden bis Aargau, aus dem Tessin und teilweise aus der Innerschweiz kommen, seien Kühe und nur ein kleiner Teil Schafe, Ziegen oder Alpakas und Lamas. Gerade Neuweltkameliden würden teilweise viel empfindlicher auf Parasiten wie Leberegel oder Würmer reagieren als Schafe oder Ziegen, sagt Gerspach. «Sie magern ab und erleiden Leberschädigungen oder Anämien.»

Über Labor- und Untersuchungsresultate, Befunde und weiteres Vorgehen informieren die Tierspital-Ärzte regelmässig die Besitzer und die Bestandestierärzte. Letztere müssten wissen, was laufe, betont Gerspach. So bleibe eine Kuh mit einer Labmagenverlagerung in der Regel vier bis fünf Tage im Spital. Komme es nicht zu Komplikationen, könne sie in Absprache mit dem Betriebstierarzt auch zu Hause weiter behandelt werden. Viele Besitzer ihrerseits seien sehr besorgt, rufen täglich an und wollen wissen, wie es ihrem Tier geht. Und sind dann froh und dankbar, wenn es ein Happy End gibt wie bei Sierra und Strupf.