Lichtdurchflutete Föhrenwälder, dazwischen Wiesen, auf denen es in vielen Farben blüht. Im Gras zirpen die Grillen, das Klima ist mild. Der Immenberg, könnte man meinen, liegt irgendwo am Mittelmeer.

Tatsächlich aber befinden wir uns im Thurgau. Nicht ganz unweit der Hauptstadt Frauenfeld erhebt sich hier der etwas über 700 Meter hohe Immenberg. Für das Mittelland ungewöhnlich steil fällt seine Südflanke ab, die ausserdem genau nach der namensgebenden Himmelsrichtung ausgerichtet ist. Die nährstoffarmen Molasseböden bieten vielen Pflanzen ideale Bedingungen, die sich sonst auf dem gedüngten, fruchtbaren Boden der umliegenden Landschaft gegen andere Arten kaum durchzusetzen vermögen. «Wir haben hier eine Arche Noah für eine grosse Anzahl Arten», sagt Markus Bürgisser, Geschäftsführer von Pro Natura Thurgau, während er auf den schmalen Pfaden durchs Gebiet führt. Arten, die aus dem intensiv genutzten Mittelland teilweise fast ganz verschwunden sind.

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Vielfältige Kulturlandschaft
Solch paradiesische Zustände fanden die wärmeliebenden Gewächse hier allerdings nicht immer vor. Vor fast dreissig Jahren noch sah es am Immenberg noch ganz anders aus. «Der Wald war dichter und dunkler», erzählt Bürgisser. Die Wiesen und Lichtungen zwischen den Baumbeständen gab es noch nicht – oder besser gesagt: Es gab sie nicht mehr.

Zu dieser Arche Noah gehören auch heimische Orchideen – und zwar in grosser Zahl. Sie benötigen nicht nur magere Wiesen, sondern auch lichte Wälder mit halbschattigen Standorten. Auf dem Immenberg blühen jedes Jahr im April und im Mai Tausende von ihnen. 26 Arten wurden hier bereits nachgewiesen, darunter der spektakuläre Frauenschuh, der immer gleich als Gruppe auftritt, verschiedene Ragwurz-Arten oder das bedrohte Purpur-Knabenkraut. Seit 2008 hat sich sein Bestand am Immenberg laut einer Untersuchung von Pro Natura verdoppelt, mittlerweile dürfte das Vorkommen das grösste der ganzen Schweiz sein.

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Schon im Mittelalter wurde der Immenberg nämlich landwirtschaftlich genutzt. Es gab Weiden, Rebberge und Wald. Über Jahrhunderte entstand so eine strukturreiche Landschaft mit einer enormen Vielfalt. «Die grösste Biodiversität hatten wir vor 200 bis 300 Jahren», sagt Markus Bürigsser. Mit dem Aufkommen der modernen Landwirtschaft wurde diese Art der Nutzung im 20. Jahrhundert aber nach und nach aufgegeben, die Fläche verwaldete, das Blätterdach schloss sich und die üppige Blumenpracht verschwand.

Mitte der 1990er-Jahre machte sich Pro Natura Thurgau daher daran, den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen. Dazu musste der Wald ausgelichtet werden, was bei den Anwohnern durchaus für Diskussionen sorgte, wie sich Bürgisser erinnert. «Nicht jeder war damit einverstanden, dass wir hier holzen.» Und doch bedeute Naturschutz – oder wie hier der Schutz des Kulturlands – auch, dass man, um seltene Arten zu fördern, häufige manchmal fällen müsse.

Fünfzig Hektar unter Schutz
Heute bewirtschaftet Pro Natura Thurgau am Immenberg auf einer Fläche von über fünfzig Hektaren ein Naturschutzgebiet. Es setzt sich zusammen aus kleineren Parzellen, die dem Kanton gehören, der Naturschutzorganisation selber oder ihr von privaten Besitzern zur Verfügung gestellt wurden. Das Schutzgebiet instand zu halten bedeutet viel Arbeit, denn auch in den steilen Hängen müssen die Weisen gemäht, die Bäume gehegt und gepflegt werden. Ein lokaler Bauer, Zivildienstleistende, Asylsuchende und andere Helfer packen hier tatkräftig mit an.

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Die Arbeit lohnt sich. Alle paar Meter hält Bürgisser an und weist auf eine botanische Besonderheit hin. Hier blüht in Weiss das Zweiblättrige Breitkölbchen, da in Pink die Mücken-Handwurz, die ausserdem betörend duftet. Unauffällig grün und fast nicht als Orchidee erkennbar ist das Grosse Zweiblatt. Alle Blicke auf sich zieht der Frauenschuh, während Purpur-Knabenkraut und Waldvöglein schon fast am Ende ihrer Blütenzeit angelangt sind. Doch auch die Pflanzen, die keine Orchideen sind, müssen sich nicht verstecken: Es blühen Dunkle Akelei, Wittwenblumen, Labkraut, Sanickel, der Kleine Wiesenknopf und viele mehr. Praktisch bei jedem Schritt hört man irgendwo eine Eidechse davonhuschen.

Isoliert im Mittelland
Klar auch, dass so eine Blütenpracht viele Insekten anzieht, darunter seltene Schmetterlings- und Heuschreckenarten. Und doch: «Dieser Lebensraum ist im Mittelland einzigartig und sehr isoliert», sagt Bürigsser. Zu isoliert beispielsweise für viele gefährdete Vogelarten. Sie sind bis jetzt noch nicht eingezogen. Und auch für die Tiere, die hier leben, birgt die Isolation Gefahren: Sollten ihre Bestände zurückgehen, ist es praktisch ausgeschlossen, dass sie durch Einwanderung von Aussen gestärkt werden.

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Trotzdem: Gerade weil der Lebensraum so einzigartig ist, wissen ihn mittlerweile auch die Anwohnerinnen und Anwohner zu schätzen. Begegnet man sich, tauscht man sich über Orchideen-Sichtungen aus. Nicht viele sind an diesem Dienstag unterwegs, doch am Wochenende davor, es war das erste schöne nach den Eisheiligen und den zweiten Corona-Lockerungen, habe es hier eine «rechte Völkerwanderung» gegeben, erzählt eine ältere Frau.

Als Naturschützer wünscht sich Markus Bürgisser für das Gebiet eigentlich möglichst wenig Störung. Und doch freut es ihn, dass die Menschen die Schönheit des Ortes zu schätzen wissen. «Die Besucher verhalten sich schon sehr rücksichtsvoll», sagt er. So bleibt ihnen die Arche Noah sicher noch lange erhalten – und vermittelt ein bisschen mediterranes Flair, auch wenn die Grenzen geschlossen sind.