Es herrscht eine gewaltige Geräuschkulisse auf der Grossen Allmend in Frauenfeld. Schüsse vom angrenzenden Waffenplatz hallen durch die Luft und tief fliegende Militärhelikopter drehen ihre Runden. Von all dem lässt sich Florin Rutschmann aber nicht aus der Ruhe bringen. Allein steht er auf einer grossen Wiese. Mit seiner gelben Leuchtweste signalisiert der Aargauer, dass er sich auf den verpachteten Feldern des Naturschutzgebietes bewegen darf. Rutschmann hat nämlich die Aufgabe, mittels mehrerer Begehungen Heuschrecken auf ausgewählten Flächen zu kartieren. «Dies wurde zuletzt 2004 gemacht. Nun wollen wir sehen, was sich seitdem verändert hat», sagt der 40-Jährige. 

Die Bedingungen dafür sind gerade nicht ideal, weil Rutschmann die Arten und Anzahl der Heuschrecken nicht nur mit dem Auge feststellt, sondern weil er ihren vielfältigen «Gesang» auch mit den Ohren zuordnet. Mehr Sorgen als der Umgebungslärm macht dem studierten Umweltingenieur aber der bedeckte Himmel. Erst bei klarem Wetter strecken die Gliederfüsser nämlich ihre Körper Richtung Sonne und werden aktiv. «Bei keiner anderen Insektengruppe gibt es eine derartige Fülle verschiedener Klänge», erzählt der Mitarbeiter von creaNatira, einer Tochterfirma von Pro Natura Aargau. «Es sind vorwiegend Männchen, die diese Gesänge mit unterschiedlichen Körperteilen erzeugen. Zum Beispiel, indem sie ihre Flügel leicht anheben und gegeneinander reiben.» Hauptsächlich tun sie das, um Weibchen anzuwerben.

Der Gesang der Zweifarbigen Beissschrecke, der durch Reiben der Flügel entsteht – in der Fachsprache Stridulation genannt

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Hören, sehen und zählen
Es gibt auch Gesänge, die rivalisierende Männchen in die Flucht schlagen sollen. Bei einigen Arten reagieren die Weibchen auf den Balzgesang mit einem Antwortgesang, der leiser und kürzer ist. Für die Bestimmung sei jedoch der Spontangesang am wichtigsten, weil er am lautesten ist, sagt Rutschmann. Er hört, was singt; schaut, was wegspringt und zählt dann. «Hören Sie? Das ist der Gesang einer Zweifarbigen Beissschrecke bei etwas niedrigeren Temperaturen. Sie klingt wie eine ungeölte Fahrradkette.» Für sein Gehör hat Rutschmann viel trainiert. Am meisten helfe es ihm, die Arten zu sehen und dabei singen zu hören. 

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Abrupt unterbricht er das Gespräch und greift blitzschnell ins hohe Gras, um seine akustische Vermutung zu bestätigen. Doch die richtig identifizierte Heuschrecke ist noch schneller und hüpft davon. Beim zweiten Versuch klappt es. Behutsam umfasst Rutschmann das Tierchen und begutachtet es. «Die Zweifarbige Beissschrecke zählt zu den Arten, die auf diesem Areal hinzugekommen sind. Das ist sehr erfreulich.»

Ob das mit der Klimaerwärmung zusammenhängt, ist nicht sicher. Diesbezüglich haben sich bereits manche Prognosen als falsch erwiesen. So befürchteten viele Biologen, dass der Klimawandel ein Desaster für Feuchtgebietsarten werden würde. Als Beispiel nennt der Initiator der Heuschrecken-Plattform orthoptera.ch die Langflügelige Schwertschrecke. Sie taucht mittlerweile aber in anderen Lebensräumen auf. Vermutlich reicht ihr die Frühjahrsfeuchtigkeit. Danach profitiert sie von der Wärme.

Roesels Beisschrecke beim Singen

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Zahlreiche Sorgenkinder
Das gelte aber bei Weitem nicht für alle Heuschrecken. Rund 40 Prozent der 110 in der Schweiz vorkommenden Arten sind laut dem Experten gefährdet. Schuld daran ist hauptsächlich die intensive Landnutzung mit gedüngten und häufig gemähten Wiesen. Auch das Klima spielt eine Rolle. Zum Beispiel beim Sumpfgrashüpfer. Sorgenkinder sind zudem die Gebirgsheuschrecken. Sie wandern immer weiter in die Höhe. «Aber was passiert, wenn es nicht mehr höher geht?», fragt sich Rutschmann. Das bleibe abzuwarten.

Nicht länger auf sich warten lässt dafür die Sonne. Dank ihr verwandelt sich die Grünfläche in unmittelbarer Nähe zum bekannten Open-Air-Gelände schlagartig in eine Freilichtbühne, auf der ein lautstarkes Konzert stattfindet. Nicht einmal die ferngesteuerten Modellflugzeuge können es übertönen. Rutschmann strahlt in diesem Moment mit der Sonne um die Wette. Überall springen jetzt Heuschrecken von einem Halm zum nächsten. «Hier ist ein Nachtigall-Grashüpfer, dort
Roesels Beissschrecke und an dieser Stelle befindet sich eine Lauchschrecke. Sie gehört zu den wenigen Arten, die keine Geräusche machen.» Der 40-jährige Aargauer kommt mit dem Zeigen kaum nach und erfasst seine Entdeckungen immer wieder auf dem Tablet.

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Neue Arten bekomme er aber kaum zu Gesicht. Dafür sei die Schweiz einfach zu gut untersucht. Eine Ausnahme seien verschleppte Exemplare, wie die Südliche Grille, die mit Erdmaterial unwissentlich eingeführt wurde und sich stark vermehrt. Sie fühlt sich im Schotter von Bahngleisen besonders wohl. Eine Bedrohung für einheimische Heuschrecken stelle sie aber nicht dar, betont Rutschmann. Auch nicht für die Feldgrillen, die sich an diesem Morgen ebenfalls bemerkbar machen. «Das ist dieses Jahr sehr speziell. Normalerweise hört man sie von Ende April bis Anfang Juni», sagt der Experte. Er vermutet, dass die nicht mehr so strikten Jahreszeiten der Grund dafür sind.

Die Feldgrille ist eine der populärsten Vertreterinnen der Heuschrecken. Bei vielen Menschen ist sie wegen ihres Zirpens beliebt. Früher hielten vor allem Südeuropäer sie deswegen als Haustiere, ohne sich gross um die Grillen zu kümmern. Besser machen es heute Terraristiker, die sich oft mit der artgerechten Haltung von Heuschrecken auseinandersetzen, um diese als Futterinsekten zu züchten. Diesbezüglich haben sie auch in der Natur eine wichtige ökologische Bedeutung. So dienen Heuschrecken als Nahrungsgrundlage für Vögel, Reptilien, Frösche, Spinnen und andere Insekten. «Als Bestäuber sind sie dagegen eher zufällig tätig», erzählt Rutschmann. 

Wieder unterbricht der Experte seine Ausführungen. Dieses Mal ist eine gesichtete Langfühler-Dornschrecke der Grund dafür. Sie singt nicht und kommuniziert stattdessen über Bodenvibrationen. Da sie klein und ebenso gut getarnt ist, sei sie schwierig nachzuweisen.

Das Zirpen der Feldgrille dürfte vielen bekannt sein

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Nur wenige Arten fliegen gut
Das ist bei der nicht zu übersehenden, vorbeifliegenden Gemeinen Sichelschrecke anders. Rutschmann erwischt sie zwar nicht auf Anhieb, sprintet aber hinterher und belohnt sich für seinen Einsatz. Zufrieden präsentiert er seinen Fang. «Die Gemeine Sichelschrecke ist eine der wenigen Arten, die sehr gut fliegen können. Sie war vor wenigen Jahren noch selten, hat aber von der Klimaerwärmung und Naturschutzmassnahmen profitiert.»

Den krönenden Abschluss der Exkursion soll nun die Entdeckung einer Sumpfschrecke bilden. Sie mache Geräusche wie ein Fingernagel-Knipser, erklärt Rutschmann und ahmt die Laute nach. Trotz fieberhafter Suche bleibt ihm der Erfolg in diesem Fall verwehrt. Dafür erblickt das geschulte Auge des Fachmanns in einem Busch ein gut getarntes Heupferd. Es ist zwar keine Rarität, aber dennoch eindrücklich. So wie die gesamte facettenreiche Welt der Heuschrecken.

So klingt das Grüne Heupferd

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