Der Raum im zweiten Untergeschoss des Naturhistorischen Museums in Bern versprüht den Charme eines Luftschutzbunkers. Betonwände, Lüftungsschächte, Neonröhren, links und rechts des Ganges graue, mit Kurbeln bestückte Gestelle. Wer eintritt, den fröstelt: Die Luft ist kühl und trocken. Und doch ist dieses Kellerabteil eine Schatzkammer.

Sein Inhalt hat einen Wert von mehreren Dutzend Millionen Franken. Wobei mehr als eine grobe Schätzung schwierig ist, denn was hier lagert, sind keine Goldstücke – sondern Insekten. Käfer, Fliegen, Bienen, Wespen, Schmetterlinge und viele mehr. Ungefähr 2,5 Millionen solcher Sechsbeiner beherbergt das Museum, das der Burgergemeinde Bern gehört. 

Über sie alle wacht Hannes Baur, der Kurator für Entomologie, wie die Insektenkunde im Fachjargon heisst. Er kurbelt die verschiebbaren Regale auseinander und nimmt einen Holzkasten aus einem Gestell. Darin liegen, unter einer Glasscheibe geschützt, Dutzende violett-schwarz schimmernde
Käfer. In Reih und Glied sind sie angeordnet, jeder mit einer feinen Nadel befestigt. «Das sind Blauviolette Waldlaufkäfer, die findet man überall im Wald», sagt Baur. 

Rekruten auf Schmetterlingsjagd
Häufig sind auch die weisslichen Schmetterlinge, die nun Baurs Kollege Hans-Peter Wymann aus dem Gestell zieht. Es handelt sich um Karstweisslinge, Verwandte des Kohlweisslings. Eine Rarität sind hingegen die gefleckten Heuschrecken, die in einem etwas älteren Sammelkasten zum Vorschein kommen. Oedaleus decorus, heisst es darauf. «In der Schweiz lebt diese Art nur noch an wenigen Stellen im Wallis», erklärt Baur. 

Damit ein Museum eine derartige Sammlung anlegen kann, muss jemand die Tiere fangen. Zwar stammt eine stattliche Zahl von Funden von am Museum angestellten Spezialisten – Wymanns Fachgebiet etwa sind die Schmetterlinge und Baur geht im Sommer oft auf die Jagd nach winzigen parasitisch lebenden Erzwespen. Aber drei Viertel aller Sammlungsstücke stammen von Amateuren. 

Zum Beispiel von Karl Vorbrodt, einem Instruktor und Zeughausverwalter der Schweizer Armee. «Vorbrodt war ein begeisterter Schmetterlingssammler und hat dazu wohl auch seinen militärischen Rang genutzt», erzählt Wymann. «Er soll jeweils hoch zu Ross Rekruten beim Sammeln im Feld beaufsichtigt haben – wer eine seltene Art fing, durfte früher abtreten.» Im frühen 20. Jahrhundert schrieb Vorbrodt aufgrund seiner Sammlung das Standardwerk «Die Schmetterlinge der Schweiz».

Prüfen, behandeln, digitalisieren
Erhält ein Museum eine solche Privatsammlung, prüft der Kurator zuerst ihren Zustand. «Bei jedem Tier muss klar sein, wer es wann und wo gesammelt hat», sagt Baur, «sonst ist es wissenschaftlich wertlos.» Ist diese Voraussetzung erfüllt, beginnt die eigentliche Arbeit: Artbestimmungen werden überprüft, Objekte allenfalls neu geordnet oder in die museumseigenen Artkästen integriert. 

Zudem digitalisiert das Naturhistorische Museum Bern seit einigen Jahren jeden Fund: Die wichtigsten Informationen werden auf dem Computer gespeichert, die Kästen fotografiert und auf die Plattform Flickr geladen. Das erleichtere den wissenschaftlichen Austausch enorm, sagt Baur. «Wenn sich ein Forscher für eine bestimmte Artengruppe interessiert, kann er uns aufgrund der Bilder genau sagen, welche Exemplare er benötigt.»

Richtig präpariert, kann ein Insekt Jahrhunderte unbeschadet überstehen. In Bern wird jedes Sammlungsstück zuerst einer zweimonatigen Stickstoffbehandlung unterzogen. Das tötet Motten, Läuse, Silberfischchen oder Speckkäfer, die Präparate befallen können. Im Sammlungsraum selber sorgen die kühlen Temperaturen und die tiefe Luftfeuchtigkeit dafür, dass sich weder Schad­insekten noch Schimmelpilze vermehren.

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Auch wenn es in dem Kellerabteil auf den ersten Blick so wirken mag, als würden die Insekten hier auf ewig verschwinden: Eine naturwissenschaftliche Sammlung ist nichts Totes. Sie dient dazu, die lebende Welt besser zu verstehen. «Für die Blauvioletten Waldlaufkäfer etwa sind Waldstrassen Barrieren», erzählt Baur. «Dank Museumsexemplaren wies man nach, dass so voneinander getrennte Käferpopulationen schon nach wenigen Jahrzehnten genetisch verarmen.» Oder der Karstweissling. «Wir stellten im Jahr 2008 fest, dass sich diese ursprünglich mediterrane Art explosionsartig in der Nordschweiz und später bis zur Nordsee ausbreitete», sagt Wymann. «Die Museumsbestände zeigten, dass die Art früher hier nicht vorkam. Sie musste also von Süden her eingewandert sein – wohl wegen der Klimaerwärmung.»

Einblicke ins Vogelleben
Einen Stock tiefer steht derweil Manuel Schweizer in der Wirbeltiersammlung. Mit rund 90 000 Objekten ist sie der Insektensammlung zwar zahlenmässig unterlegen, aber genauso eindrücklich. Schweizer ist als Kurator Ornithologie für die 30 000 Vogelpräparate verantwortlich.

Die meisten sind Bälge, also mit dem Federkleid abgezogene Häute des Vogels, die in einen Kasten oder in eine Schachtel gelegt werden. «Das gibt weniger zu tun, als einen Vogel stehend zu präparieren», sagt Schweizer. Genau wie bei den Insekten stammen manche Präparate von Privatpersonen. Vom Besitzer der Maschinenfabrik Aebi in Burgdorf etwa erhielt das Museum 353 Vögel aus dem 19. und 20. Jahrhundert. «Sie zeigen, dass einige heute bei uns ausgestorbene Arten wie der Rotkopfwürger früher verbreitet waren», sagt Schweizer.

Vögel werden heute kaum noch zu Sammlungszwecken gejagt. «Wenn jemand einen toten Vogel gefunden hat, nehmen wir ihn aber gerne auf», sagt Schweizer. Denn eigentlich werden die Sammlungen immer wertvoller: Mit neuen Techniken lassen sich Dinge aus den toten Tieren herauslesen, von denen frühere Naturforscher nicht zu träumen gewagt hätten. «Isotopenanalysen etwa zeigen, wo ein Vogel seinen Federwechsel durchgeführt hat», sagt Schweizer. 84 Vogelskelette leihe er momentan der Universität Freiburg aus. «Die wollen herausfinden, wie ähnlich sich die Knochen von Vögeln und Dinosauriern entwickelt haben.» 

Die Rolle der Illustrationen
Eine andere Verwendung der Präparate hat Jahrhunderte überdauert: Man zeichnet sie ab. So wie Hans-Peter Wymann, der nicht nur Schmetterlingsspezialist ist, sondern auch wissenschaftlicher Illustrator. «Für Bestimmungsbücher sind Illustrationen besser geeignet als Fotos», sagt er. Auf einer Fotografie ist nur ein einziges Tier abgebildet.

Der Illustrator hingegen taucht ein in die Variabilität einer Art, schält ihre typischen Merkmale heraus. «Es geht darum, Form und Farbe exakt abzubilden, gleichzeitig aber die Bestimmungsmerkmale hervorzuheben.» Das ist eine Heidenarbeit: Um für eine Neuauflage der «Schmetterlinge der Schweiz» einen Druckbogen voller Schmetterlinge zu zeichnen, benötigt Wymann fünf bis sechs Wochen. Ein Glück, dass ihm seine Modelle nicht davonflattern. 

Dieser Artikel erschien erstmals 2019 in der «Tierwelt».

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