Immerhin bis zur Felswand reicht die Sicht. Steil und nass glänzt sie uns entgegen. Die Vertiefungen darin sind der Grund, wieso der Steinbruch im solothurnischen Lommiswil nicht mehr in Betrieb ist. Es sind Dinosaurierspuren. «Durchmesser: 80 bis 100 Zentimeter»; Hans-Peter Beutler liest aus seinen Notizen vor; Klarsichtmäppchen schützen die A4-Blätter vor dem Regen. «Schrittlänge: drei Meter. Das heisst, das Tier muss fast fünf Meter hoch gewesen sein. Ein Apatosaurus oder ein Brachiosaurus.» Die richtig grossen Kreaturen mit den langen Hälsen waren das also, die einst durch Lommiswil spazierten, als hier noch ein Strand war.

Hans-Peter Beutler ist ein Ranger. Genau gesagt: Der Jura-Südfuss-Ranger, was das Namensschild auf seiner Ranger-Uniform auch verraten würde, müsste er es nicht unter der schweren Regenjacke verstecken. «Ich hätte ursprünglich gerne Wildtierbiologie studiert», sagt er auf das «Warum». «Aber das gab es damals nicht in der Schweiz.» Also wurde er Chemiker, arbeitete in Bern und Basel, kehrte schliesslich wieder in seinen Heimatkanton Solothurn zurück – zum kantonalen Amt für Umwelt.

Hier frischte er seine alte Liebe zum Jura wieder auf. Und: «Als die Pensionierung langsam näher kam, dachte ich, ich kann nicht einfach zu Hause die Füsse auf den Tisch legen.» Er absolvierte den zweijährigen Ranger-Lehrgang im Bildungszentrum Wald in Lyss BE; pünktlich auf die Pensionierung hatte er das Diplom im Sack, baute seine Website auf, die Führungen anbietet und «gluschtig» auf den Jura machen sollte.

Meterhoch Schnee auf der Hasenmatt
Beim Autor hat das funktioniert. Und so steht er nun zusammen mit dem Ranger auf der triefnassen Holzplattform und lässt sich erklären, wie es dazu kam, dass die steile Felswand dort drüben einst flach war und die Heimat einer Apatosaurier-Herde. Und jetzt zieht noch der Wind an. Wetter zum Aussterben.

Geplant wäre eine Wanderung auf die Hasenmatt gewesen, ein steil emporragendes Güpfi auf der ersten Jurakette. Der Höchste Punkt im Kanton ist genauso auf Beutlers Ranger-Abzeichen verewigt wie die Aare, die sich unten im Tal windet – heute sind sie beide vom Grau der Ferne verschluckt.

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Der Ranger hat in der Woche vor unserem Ausflug sogar ausgekundschaftet, ob die Wanderung möglich wäre. Ende Januar war das, als es frisch geschneit hatte. Mit Schneeschuhen ist er hochgestiefelt und hat Bilder gemacht von eiszapfenbehangenen Felsbögen, von unter den Schneemassen ächzenden Ästen, vom Wanderwegweiser, der im meterhohen Schnee versäuft und auf Hüft- statt auf Kopfhöhe sagt: «Hasenmatt. 1426 m».

In der Zwischenzeit hat es eine Woche lang in den Tiefschnee reingeregnet. Von der Wanderung riet Beutler ab und schlug Plan B vor. Ein Rundgang auf halber Höhe immerhin. Von den Dinospuren einmal durch den Bergwald, bis zur Lochbachschlucht, wo sich ein Endlosblick auf Mittelland und Alpen eröffnen sollte. Dorthin sind wir jetzt unterwegs, entscheiden uns vor jedem Schritt zwischen nassem Schlamm und eisglattem Altschnee.

Gotthelfs blauer Jura
Plötzlich geht es links steil runter. Der Lochbach hat sich eine scharfe Schneise durch den Fels gefräst. An eine Fernsicht in Richtung Flachland ist nicht zu denken, dafür tanzen auf der anderen Schluchtseite alte, knorrige Bäume auf der Felskante über dem Abgrund, badend in wabernden Nebelschwaden. Ein mystischer Moment, denkt sich der Autor. Typisch Jura?

Es gebe eben für ihn gar kein «Typisch Jura», erwidert der Ranger. Die schroffen Felsen und dunklen Wälder hier sind eine ganz andere Welt als die lieblichen Wytweiden der Freiberge. Der Blick von Süden auf den Jura sei ein ganz anderer als derjenige von Norden. Von Süden her ist der Jura – mit Blick auf die erste, höchste Bergkette – ein Hindernis. Von Basel aus eine Einladung. Ein sanftes Einlaufen, ein Schwungholen. Und, sagt Beutler: «Vom Emmental aus betrachtet, hat schon Gotthelf vom ‹blauen Jura› gesprochen.» Er zeigt auf das Abzeichen unter seiner Regenjacke. Die Jurakette, das fällt erst jetzt auf, ist in einem fahlen Blauton gehalten.

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Wenn er doch etwas finden müsste, was er als «typisch Jura» bezeichnen würde, sagt Beutler nach einer Weile des Nachdenkens, dann würde er das raue, eher trockene Klima hervorheben – beim Wort «trocken» muss er am heutigen Tag schmunzeln, aber Wetter ist ja nicht gleich Klima. Auf alle Fälle, führt Beutler aus, «gibt es hier nicht wie in den Alpen auf jedem Hoger ein Bauernhaus, sondern vermehrt kleine Dörfer». Es gebe nicht viele Quellen, deshalb würden sich die Menschen seit jeher dort konzentrieren, wo es Wasser gibt. «Man erlebt auch heute noch Überraschungen, wenn man irgendwo Wasser einfärbt, das in einer Felsspalte verschwindet, und wo es dann farbig wieder rauskommt.» Es warten also im ganzen Jura noch eine Menge Höhlensysteme darauf, erkundet zu werden.

Weiter hoch bringe heute nichts, meint Beutler. Stattdessen fährt er nun mit seinem kleinen Geländewagen nach Altreu hinunter. Dem Dörfchen, in dem jedes Hausdach ein Storchennest trägt. Ein guter Teil der Horste sind schon besetzt. «Das sind die Männchen, die sind immer etwas eher da und machen schon einmal das Nest parat, bis das Weibchen nachkommt.»

Im Biber- und Storchenland
Neben seinem eigenen Projekt als Jura-Ranger ist Beutler auch in Altreu engagiert, in der ehemaligen Storchenkolonie, die sich jetzt «Infozentrum Witi» nennt. Das klingt weniger nach Gefangenenlager, schliesslich werden hier keine Störche mehr in Gefangenschaft gehalten; heute sind sie freiwillig hier.

Neben Storchenführungen, die ab April – so Corona will – wieder stattfinden sollen, bietet Beutler hier auch andere Führungen an. Vor allem der Biber hat es ihm angetan. Kein ganz typischer Jurabewohner vielleicht, das nicht, aber die sanft mäandrierende Aare und die kleinen Bäche, die sie speisen, gehören eben auch zu «seinem» Jurasüdfuss.

Und so ist der Spaziergang ans Aareufer ein würdiger Abschluss dieser Plan-B-Edition des Jura-Ausflugs – auch wenn es inzwischen diagonal regnet. Wir sehen den Lochbach, der vorhin tief unten in seiner Schlucht vergraben war, zum ersten Mal von Nahem. Er ergiesst sich hier in die Aare, auch wenn das die Biber hartnäckig zu verhindern versuchen. Sie leisten hier ganze Holzfällerarbeit, was Beutler Worte der Bewunderung entlockt. Auf dem überschwemmten Maisfeld am anderen Wegrand tunken zwei Störche ihre Schnäbel in den Schlamm. «Für die sind solche Bedingungen natürlich perfekt», sagt der Ranger. Und ich ziehe die Regenkapuze tiefer ins Gesicht.