Die lähmende Hitze des Mittags liegt um 16 Uhr noch immer über dem Wald. Edwin Salazar Zapata schlüpft in seine Gummistiefel. Einzelne Touristen kriechen aus der mit Schilf bedeckten Hütte und tun es ihm gleich. Nachmittag in Tambopata am gleichnamigen Fluss mitten im peruanischen Tieflandregenwald im Departement Madre de Dios, das an Bolivien und Brasilien grenzt. Edwin ist Biologe und führt Touristen durch den tropischen Regenwald.

Bald schon schiebt er am Rand der Lichtung die wuchernden, dunkelgrünen Blätter eines Philodendrons beiseite und taucht mit seiner kleinen Gruppe in das Grün ein. Das Dickicht verschluckt den Trupp sofort. Düsternis, stehende, modrige Luft, Mücken surren, Spinnfäden kleben im Gesicht. Edwin stapft weiter eine Anhöhe hinauf, beidseitig nun ein dichter Bambuswald. Der jetzt trockene Boden ist voller verdorrter, vergilbter Blätter. Rascheln, keckern. Totenkopfäffchen hangeln sich durch die beweglichen Stängel. Von der Anhöhe aus fällt der Blick auf den trüben Fluss und in die Krone eines Cecropia-Baums. Das sei eine typische Pionierpflanze, erklärt Edwin. Er identifiziert das Wollknäuel im Geäst als Zweifingerfaultier.

Als es einen Abhang hinuntergeht, wird die Luft wieder stickig. Plötzlich leises Grunzen, Edwin erstarrt. Unvermittelt prescht eine Rotte Pekaris davon. Die Gummistiefel sinken mit schmatzendem Geräusch im Schlamm und Schlick ein. Zu beiden Seiten wachsen Palmen, deren Stämme im Sumpf oder teilweise auch ganz im Wasser stehen. Ein rauer, kreischender Schrei erschreckt die Fremden. Ein Gelbbrustara ist in eine Palmenkrone geflogen und äugt auf die Menschengruppe herab. Im dünnen Stamm einer abgestorbenen Palme wächst sein Junges heran. Edwin bleibt stehen, klatscht sich eine Mücke aus dem Gesicht, sieht zu Boden und sagt: «Hier, frische Tapir-Spuren.»

Keine Chance, den grossen, eigentümlichen Einzelgänger zu sehen, der kleine, sich schlängelnde Pfade durch den Wald anlegt. Dort, wo man vor lauter Pflanzen nur knapp die Hand vor sich sieht und im Schlamm versinkt, lebt der braune Säuger mit weisslichen Fellanteilen am länglichen Kopf heimlich. Mühelos durchschwimmt er Flüsse. Das Fell von Jungtieren ist braun und von weissen Strichen durchzogen. Sie dienen vermutlich der Auflösung von Konturen. «Ein Schutz vor dem Jaguar», sagt Edwin.

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Erdhügel entpuppen sich als lebendig
Für Victor in den venezolanischen Llanos ist es einfacher, wenn er Touristen einen Grossen Ameisenbären zeigen möchte. Ist es ein Schaf? Das fragt man sich im ersten Augenblick, als durch halb hohes Gras über Weiden des Hato el Cedral, einer riesigen landwirtschaftlichen Kooperative, ein eigentümliches Lebewesen mit langem Schwanz trottet, voller zottigen Fells, mit dünner, halbmondartig gebogener Schnauze. Immer wieder bleibt der Grosse Ameisenbär stehen, stochert mit seiner langen Nase am Boden herum, steckt sie hier und mal dort hin, geht wieder einige Schritte. Der Einzelgänger streift durch die Palmensavannen eines riesigen, flachen Gebiets, das an Kolumbien grenzt.

Sumpfige Seen, so weit das Auge reicht. Dazwischen Landerhebungen mit vielen Erdhügeln. Sie entpuppen sich bei näherem Hinsehen als ruhende Wasserschweine oder Capybaras, die wie übergrosse Meerschweinchen aussehen. Dazwischen reglose Kaimane, als wären sie aus Plastik. Am Rand einer Viehweide, wo Bäume wachsen, bleibt Victor stehen, zeigt ins Astwerk und ruft: «Ein Tamandua!» Der Kleine Ameisenbär, der da schläfrig aus dem Astwerk blickt, scheint ein Bindeglied zu sein zwischen dem am Boden lebenden Grossen Ameisenbären und dem Zwergameisenbären, der ausschliesslich in Bäumen lebt.

Der Tamandua durchstreift die Palmen­savannen, klettert aber auch problemlos auf Bäume. Nicht so der Grosse Ameisenbär. Beide sind Einzelgänger. Auch das Gürteltier, das wenig später die staubige Piste kreuzt, ist alleine unterwegs, die Nase stets in den Sand gerichtet, trippelt es federnd weiter, vermutlich auf der Suche nach Insekten und Pflanzenteilen. Nur seine Öhrchen ragen aus dem wie ein Panzer wirkenden Körper.

Südamerikas Tierwelt ist eigenartig. So sind etwa die Gürteltiere die einzig überlebenden Säugetiere der Gepanzerten Nebengelenktiere. Nur sie verfügen über einen solchen knöchernen Panzer. Am nächsten mit ihnen verwandt sind die Ameisenbären und die Faultiere. Alle drei Gruppen zeichnen sich durch besondere Skelettbildungen an der Wirbelsäule aus und scheinen wie aus der Zeit gefallen. Tatsächlich sind beispielsweise die Tapire letzte Überbleibsel aus dem Erdzeitalter des Tertiärs, das vor 66 Millionen Jahren begann und bis vor 2,6 Millionen Jahre dauerte. Damals, nach dem Aussterben der Dinosaurier, entwickelte sich die Tierwelt, wie wir sie heute kennen.

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Die grösste Artenvielfalt der Welt
Vor noch gar nicht so langer Zeit starb jedoch in Südamerika das Riesenfaultier aus. Der Schweizer Santiago Roth grub in der Pampa Argentiniens ein Skelett dieses Tieres aus, das mehrere Tonnen schwer war. Das Megatherium lebte im Gegensatz zu den heutigen Faultieren auf dem Boden. Letzte Exemplare verschwanden vor etwa 10 000 Jahren, nach der Besiedlung Amerikas durch den Menschen.

Faultiere bewegen sich im Zeitlupentempo, Gürteltiere und Ameisenbären scheinen im Gegensatz dazu mühelos durch Grassteppen zu streifen. Und doch ist allen ein niedriger Stoffwechsel gemein. Es ist, wie wenn sie, im Vergleich zu anderen Säugern, mit halber Kraft in ihrem Innern arbeiten würden. Auch die meisten anderen südamerikanischen Tiere haben einen reduzierten Energieumsatz. Darum wohl gelang es nur wenigen südamerikanische Arten, nach Nordamerika vorzudringen.
Südamerika hat die grösste Biodiversität weltweit, ganz im Gegensatz zu dem artenarmen Nordamerika. Es scheint, dass Knappheit die Bestände verschiedener Arten kleinhält und verhindert, dass sich wenige, kräftige Arten durchsetzen und andere verdrängen. Der Regenwald ist zwar üppig, doch gibt er fast nichts an Eiweiss her. Das scheint der Grund, warum nur Arten mit geringer Körpergrösse auf dem Kontinent leben. Nur darum haben wohl auch stammesgeschichtlich alte, anspruchslosere Arten überlebt.

Auch die ehemalige Inselnatur Südamerikas hat dazu geführt, dass sich die Tierwelt so völlig anders entwickelte als etwa diejenige Afrikas. Die Landbrücke, die Süd- mit Nordamerika verbindet, entstand vor gut drei Millionen Jahren durch Vulkanismus. Darüber wanderten neue Arten in Südamerika ein, wie beispielsweise die Vorfahren des Mähnenwolfs. Dieser eigentümliche Passgänger streift durch weite Teile der Buschvegetation des südamerikanischen Kontinents. Wenn sie auch offener ist als der tropische Regenwald, ist es doch schwierig, ihn dort zu sehen. So wie die anderen Säugetiere Südamerikas, von denen Edwin Salazar Zapata im peruanischen Regenwald meist Spuren im Schlick findet, Geräusche hört oder sieht, wie sich ein Fellknäuel in Zeitlupe durch das Geäst schiebt.