Eine steile These gleich mal zum Warmwerden: Wer das Wesen eines Naturparks ergründen will, fährt am besten einmal mit dem Postauto quer hindurch. So zumindest kommt es mir an diesem letzten Sonnentag vor dem zweiten (oder wars schon der dritte?) Wintereinbruch 2021 vor. Mutterseelenallein sitze ich in Schwarzenburg BE auf dem Polstersitz und warte auf den Chauffeur, der es nicht allzu genau nimmt mit dem Fahrplan. Ein Crashkurs in Entschleunigung.

Mit sechs Minuten Verspätung geht’s los. Das «Poschi» gleitet zwischen den sanft geschwungenen Hügeln des Naturparks Gantrisch hindurch. Die Häusergruppen werden immer kleiner, die Höfe spärlicher gestreut. Auf einer saftiggrünen Anhöhe voller Säublumen steht ein Rehböcklein und glotzt dem gelben Gefährt hinterher. Einem Bauern folgt die kleine Schafherde bei Fuss, während er Zweige von einem jungen Apfelbaum auf ihrer Weide abzwackt.

Der Regionale Naturpark Gantrisch ist einer von knapp 20 seiner Art in der Schweiz. Und was beim Blick aus dem Postautofenster unschwer zu erkennen ist: Ein solcher Naturpark ist ganz etwas anderes als etwa der fast gänzlich unberührte Nationalpark im Bündnerland. Hier darf gebaut, gebauert, gewirtschaftet werden – und doch soll «Natur» hier grossgeschrieben bleiben (siehe aufklappbare Box).

Rezertifizierungen ohne Probleme
Seit 2012 trägt die Gantrisch-Region ihr Naturpark-Label und Abstimmungen in den 20 Gemeinden darin lassen keinen Zweifel daran: Man will Naturpark bleiben, nächstes Jahr soll es vom Bundesamt für Umwelt das Zertifikat für zehn weitere Jahre geben. Das sieht anderswo ganz ähnlich aus: Ein Grossteil der aktuell 19 Regionalen Naturpärke muss sein Label in den nächsten Jahren erneuern – die entsprechenden Abstimmungen sind allesamt problemlos durchgeflutscht. Vielerorts wollen sogar neue Gemeinden mit ins Boot kommen – der Jurapark Aargau etwa wird bald von 28 auf 36 Gemeinden wachsen.

Naturpärke funktionieren also ganz offensichtlich. Und doch sah es dieses Jahr für ein Projekt in Graubünden ganz anders aus: Das Volk hat den Plänen für einen neuen Regionalen Naturpark Rätikon jäh den Riegel geschoben («Tierwelt online» berichtete).

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Die Sightseeing-Tour durchs Gantrischgebiet ist inzwischen ruppiger geworden. Das Postauto kurvt nun eine waldige Sandsteingegend hoch, durch die sich die Sense mit ihrem breiten Kiesbett eine klaffende Schneise gefressen hat. Erste übrig gebliebene Schneefetzen zeigen sich auf schattigen Hängen. Sie sollen bald zur Regel werden – spätestens als die Tonbandstimme die Station «Schwefelberg Bad» ankündigt.

Hier steige ich aus und sehe an der Bushaltestelle zum ersten Mal das Logo des Naturparks. Eine Infotafel erzählt mir mehr über die Geschichte des Ortes und über die Wanderwege im Park. Einen davon nehme ich und ein paar Minuten später stapfe ich durch 30 Zentimeter tiefen Altschnee, der sich nicht entscheiden kann, ob er mich tragen soll oder nicht.

Ich bin froh um die paar Trittspuren, die mir verraten, wo der Wanderweg langführt. Sie könnten schon wochenalt sein, genau wie die Tierspur etwas abseits des Weges, die ich optimistischerweise einfach mal einem Luchs zuordne – von denen gibt es nämlich hier mindestens einen. Zugegebenermassen könnte die halb abgeschmolzene Spur aber auch von einem grossen Hund stammen.

Töffspass am Gurnigelpass
Eindeutiger ist das dumpfe Brummen in der Ferne zu identifizieren. Es gehört weder Hund noch Luchs, sondern den Motorradfahrern, die zu Dutzenden auf der Passstrasse über den Gurnigel heizen. Ich werde mir der Ironie bewusst, dass ich weit und breit die einzige Menschenseele zu sein scheine, die im Naturpark auch umweltfreundlich unterwegs ist.

Auf der anderen Hangseite – der sonnigen – zeigt sich zaghaft der Frühling. Die Schneeglöckchen blühen und ein paar dicke Hummeln schweben wippend über die fahle Wiese. Die Schneefelder weichen einer Sumpflandschaft bis hoch zur Wasserscheide. Hier trennt sich nicht nur Sensewasser von Gürbewasser – in der Aare werden sich beide wieder treffen. Hier ist auch Schluss mit der Einsamkeit in der Natur.

Ein Schilderwald, immer schön mit «Regionaler Naturpark Gantrisch» beschriftet, bringt mir bei, wo ich langlaufen kann, wie ich mich im Wildschutzgebiet verhalten soll und weshalb Sturm Lothar hier für einen vielfältigen Wald gesorgt hat. In meinem Rücken knattern Oldtimer und Töffs über die Passstrasse. Die Reizüberflutung besänftigt allein die überwältigende Aussicht auf den gezwirbelten Gipfel des Gantrisch, die Nünenenflue und – weit unten – den Thunersee.

Beim Berghaus Gurnigel findet der Ausflüglerstrom seinen Höhepunkt. Eine der wenigen Beizen, die ein Corona-konformes Take-away anbieten, überredet auch die angefressensten Passfahrer zu einer Mittagspause. Ich kaufe mir Trockenwurst und «Rüeggisberger Mutsch» aus dem Selbstbedienungskühlschrank – natürlich prangt das Naturpark-Logo auf der Käsepackung – und steige wieder ins Postauto. Das nächste kommt erst in drei Stunden und da hinten türmen sich die Wolken schon arg finster. Motorisiert ist man im Naturpark deutlich flexibler.

Diesmal sitzen wir zu zweit drin und auf der Fahrt steigen gar noch ein paar Leute zu. Als wir dem aufziehenden Winter entfliehen, wird die Landschaft wieder lieblicher, der Frühling satter. Zurück in Schwarzenburg suche ich noch kurz das Schloss auf, das als Naturpark-Geschäftsstelle samt Infozentrum dient. Schade, dass es gerade übers Wochenende geschlossen ist.

So konnte ich nicht vor Ort nachfragen, aber doch glaube ich, im Kern erlebt zu haben, worum es dem Regionalen Naturpark Gantrisch geht – sofern man das in so kurzer Zeit erfassen kann: Um das Glück, in einer ausnehmend schönen Landschaft leben zu dürfen und diese zwischen Wirtschaft, Tourismus und Naturschutz so gerecht wie möglich aufzuteilen. Es ist eine Landschaft, in der gelebt werden soll, kein Museum. Da haben Wildtiere, Langläufer, Kühe, Wandererinnen – und auch Töfffahrer Platz.