Zuerst meinte die Crew, sie habe ein Dinosaurier-Skelett gefunden. Die Männer waren im November 1987 in einem Tiefsee-U-Boot unterwegs, um die Küste vor dem kalifornischen San Diego zu kartieren, als sie in 1240 Metern Tiefe auf ein riesenhaftes Gerippe stiessen.

Der Leiter der Mission, Craig Smith von der Universität von Hawaii, liess einige Knochen des Tieres und darunterliegendes Sediment bergen. Was sich zeigte, war zweierlei: Das Skelett stammte nicht von einem Saurier, sondern von einem 21 Meter langen Blauwal, der seit 50 Jahren tot war. Und da waren Muscheln auf den Gebeinen. Aberhunderte von grossen Venusmuscheln.

Smith erkannte, dass ein Wal, der nach seinem Tod auf den Meeresgrund sinkt, für Tiefseegeschöpfe so etwas sein muss wie eine Oase in der Wüste. Denn in den Tiefen des Meeres erhellt kein Sonnenstrahl die Dunkelheit. Ohne Licht aber wachsen keine Pflanzen. Nahrung kommt deshalb nur von oben – wenn abgestorbenes Material aus den dichter bevölkerten Meeresschichten herunterrieselt.

Schlafhaie und Schleimaale verlustieren sich am Kadaver eines Blauwals (Video: BBC Earth):

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Weil es praktisch unmöglich ist, Walkadaver in der Tiefsee zu finden, begann Smith nachzuhelfen. Er zerlegte gestrandete, tote Wale, zog sie mit Motorboten aufs offene Meer hinaus und versenkte sie, beschwert mit Betonblöcken und Eisenbahnrädern. Dank dieses Kniffs fanden Smith und seine Mitstreiter im Lauf der Jahre mehr als 400 Arten, die sich von toten Walen ernähren.

Aufmarsch der Knochenfresser
Sie fanden heraus, in welcher Reihenfolge sich die Aasfresser über einen solchen Giganten hermachen. In einer ersten Phase reissen Schlafhaie, Schleimaale und Krabben den Wal in Stücke. Bis zu 60 Kilo Fleisch, Muskeln und Fett verschlingen sie pro Tag. Nach ein bis zwei Jahren bleibt selbst von einem grossen Wal nicht mehr viel mehr als Knochen.

In Phase zwei stellen sich Borstenwürmer und kleine Krabben ein. Sie nagen die letzten Fleischreste von den Knochen, verspeisen Walöl und andere Reste in den Sedimenten rund um den Kadaver. In der dritten und letzten Phase übernehmen Würmer, Schnecken und Bakterien die Zersetzung der Knochen. Zum Beispiel sonderliche Bartwürmer, die erst vor 16 Jahren entdeckt wurden. Die nur wenige Zentimeter langen Tiere haben keinen Mund. Stattdessen sondert eine Art Wurzelsystem Säuren ab und nimmt Nährstoffe aus den aufgelösten Knochen auf. Manchmal dauert es Jahrzehnte, bis von einem Wal nichts mehr übrig ist. 

Smith vermutet, dass erst Walkadaver es einigen Arten ermöglichen, neue Meeresgebiete zu erobern. Laut seinen Schätzungen sinken jedes Jahr 70 000 der Meeresriesen tot in die Tiefe. Geht man von einer durchschnittlichen Zersetzungsdauer von zehn Jahren aus, liegen 700 000 Walkadaver in unterschiedlichen Zuständen der Verwesung am Meeresgrund. Unter manchen Wal-Wanderrouten ruht wohl alle paar Kilometer ein Koloss. Es sind eine Art Trittsteine, die die Armada von Aasfressern auf ihrer immerwährenden Wanderung durch die Weltmeere lotsen.