Im Mai wird es in Teilen der US-Staaten Ohio, Maryland und Pennsylvania laut. Sehr laut sogar. Denn im Mai kriecht Brut V (5) aus dem Boden. 17 lange Jahre lang sind Millionen ihrer Mitglieder unter der Erde herangewachsen, haben sich, ernährt vom Wurzelsaft von Bäumen, von winzigen Eiern in ansehnliche Nymphen verwandelt und sind nun bereit, die letzte und wichtigste Phase ihres langen Lebens anzutreten. Nur wenige Wochen haben sie nun Zeit, ihre Bestimmung zu erfüllen und sich zu paaren, neue Eier in den Boden zu legen und schliesslich das Zeitliche zu segnen. Dazu streifen sie ihr Nymphenskelett ab, werden zu stattlichen, vollständig entwickelten Zikaden, klettern auf Bäume und singen. Was das Zeug hält. In Heerscharen. Mit Dichten von bis zu 3,75 Millionen Individuen pro Hektar.

Sieben Arten umfasst die Gattung Magicicada. Drei davon kommen im Nordosten der USA vor und erscheinen alle 17 Jahre, vier weitere leben in südlicheren Gebieten und folgen einem 13-jährigen Zyklus. Jedes Jahr taucht eine andere Brut, die meist mehrere Millionen Individuen von verschiedenen Arten umfasst, in einem anderen Gebiet auf. Es gibt derzeit 15 Bruten, von der National Geographic Society werden sie überwacht. Brut 5 ist eine von ihnen. Magicicada-Arten haben den längsten bekannten Zyklus der Insektenwelt.

Der Schwarm ist alles
Auf den ersten Blick mag dies unlogisch wirken. Sich nur alle 13 oder 17 Jahre fortpflanzen zu können, scheint nicht besonders effizient. Doch dahinter steckt eine ausgeklügelte Überlebensstrategie. Wenn nämlich die Temperatur im Boden in einer Tiefe von 20 Zentimetern vier Nächte hintereinander mindestens 18 Grad beträgt, dann ist es soweit. Dann taucht die ganze Brut mehr oder weniger gleichzeitig aus dem Boden auf. So ist der Tisch für Räuber aller Art zwar reich gedeckt – doch diese können sich die Bäuche vollschlagen so viel sie wollen, sie werden es nicht schaffen, ein Loch in die millionenstarken Populationen zu reissen. Bei Magicicada-Arten zählt nicht das Individuum, sondern der Schwarm.

Und das ist noch nicht alles. Findige Zahlenspezialisten werden es wahrscheinlich längst bemerkt haben: 13 und 17 sind Primzahlen und daher – wir erinnern uns – nur durch 1 und durch sich selber teilbar. Diese Tatsache fiel auch dem amerikanischen Paläontologen und Evolutionsbiologen Stephen Jay Gould auf. In seinem 1977 erschienenen Buch «Ever since Darwin: Reflections on Natural History» stellte Gould die Theorie auf, dass die Zikaden solchen Primzahlzyklen folgen, um ihren Fressfeinden zu entgehen.

Denn auch diese tauchen in Zyklen auf, in denen ihre Bestände Spitzenwerte erreichen, und zwar meist in kürzeren. So würden Zikaden mit einem Zwölf-Jahres-Zyklus regelmässig Räubern mit einem Zwei-, Drei-, Vier- und Sechs-Jahres-Zyklus zum Opfer fallen. Eine Zikade mit einem 17-Jahres-Zyklus trifft dagegen trifft einen Räuber im Fünf-Jahres-Zyklus nur alle 85 Jahre in der Höchstzahl seiner Population an, was ihr einen enormen Vorteil verschafft.

So sieht eine Magicicada-Invasion aus und vor allem: So hört sie sich an! Zum Glück für die Anwohner singen die Zikaden nur tagsüber. Der Filmer erzählt auch von umherfliegenden Zikaden, die man im Video aber nicht sehen kann.

[EXT 1]

Primzahlen schützen vor Hybridisierung
Nach allem, was Forscher über diese geduldigen Zikaden bereits herausgefunden haben, bleibt noch eine Frage: Woher wissen die Tiere, wann 17 Jahre vergangen sind? Woher weiss Brut V, dass ihre Zeit gekommen ist? Das bleibt vorerst ihr Geheimnis. Man vermutet, dass der Zyklus genetisch bestimmt ist. Im Jahr 2003 schrieben Wissenschaftler im Fachmagazin «Evolution», dass eine Durchmischung von 13- und 17-Jahres-Zikaden dazu führt, dass deren hybride Nachkommen öfters gefressen werden, weil ihr genetisches Programm nicht richtig zu funktionieren scheint und sie Jahre vor oder nach der Hauptpopulation an der Oberfläche erscheinen können.

Die Primzahlen schützen die Magicicada also auch vor sich selbst. Mancherorts überlappen sich die Verbreitungsgebiete der 13- und der 17-Jahres-Zikaden. Treffen tun sie sich allerdings nur alle 221 Jahre.

Wie auch immer die Zikaden also wissen, dass es Zeit ist, aufzutauchen, sicher ist: Sie wissen es. Der Moment, auf den Brut V seit 1999 gewartet hat, ist endlich gekommen.