Der Orientierungssinn der Brieftauben gibt noch immer Rätsel auf. Vermutlich dient ihnen der Sonnenstand oder ein Magnetsinn als eine Art innerer Kompass. Doch was bringt Ihnen ein Kompass, wenn Sie irgendwo auf der Welt ausgesetzt werden? Nichts – es sei denn, sie finden heraus, in welche Himmelsrichtung Ihr Zuhause liegt.

Wir Menschen wären in einer solchen Situation wohl vollkommen hilflos. Doch den Tauben hilft vermutlich ihr Geruchssinn, wie sich aus einer Reihe von wissenschaftlichen Experimenten schliessen lässt. So ist schon seit über 40 Jahren bekannt, dass Tauben mit beschädigten Geruchsnerven grosse Mühe haben, nach Hause zu finden.

Die Tauben müssen den Wind spüren
In einem anderen Experiment wurden Tauben an einem fremden Ort während einer Stunde in einem Container mit gefilterter Luft gehalten. Nach der Freilassung flogen sie in zufällige Richtungen, während andere Versuchstauben, die im Container die ungefilterte Luft dieses Ortes atmeten, zielstrebig heimwärts zogen. Auch Tauben, die zuhause in einem Käfig gehalten wurden, der keinem Wind ausgesetzt war oder wo der Wind in eine andere Richtung abgelenkt wurde, konnten sich nach einer Aussetzung nicht orientieren.

Hans G. Wallraff vom Max Planck Institut für Ornithologie in Seewiesen (Oberbayern) schloss daraus, dass es in der Luft enthaltene Stoffe sind, an denen sich Brieftauben orientieren. Und er fand ein Modell, das die Ergebnisse der Experimente erklären konnte. Um es zu verstehen, stellen wir uns vor, wir wohnen östlich von einer Kaffeerösterei. Jedesmal bei Westwind riecht es also nach Kaffee. Wenn wir nun bei der Rösterei ausgesetzt werden, erkennen wir den Geruch und erinnern uns: So roch es, wenn der Wind von Ost nach West blies. Und genau in diese Richtung wandern wir folglich und gelangen so auf direktem Weg nach Hause.

Virtuelle Tauben waren erfolgreich
Nun reicht unsere Nase natürlich nicht aus, um uns so über hunderte von Kilometern zu führen. Um herauszufinden, ob es für Tauben möglich ist, programmierte Wallraff eine virtuelle Taube, mit der er den Geruchssinn echter Tauben simulierte. Weiter mass er den Wind und nahm Luftproben an 96 Orten innerhalb eines 200 Kilometer grossen Gebietes und analysierte sie im Labor. Die virtuelle Taube konnte sich anhand der Daten tatsächlich orientieren, schreibt Wallraff in seiner Studie, die im Wissenschaftsmagazin Biogeosciences veröffentlich wurde.

Wallraff betont aber, dass damit die Navigationsmechanismen der Tauben und anderer Vögel noch lange nicht verstanden sind. Viele Fragen sind noch offen, und insbesondere fehlt es an Versuchsergebnissen mit echten Tauben.