Vor der griechischen Insel Paros: Zwei Taucher paddeln auf einigen Metern Tiefe einer felsigen Unterwasserlandschaft entlang, als sie einen Oktopus entdecken, der auf ein Loch zusteuert. Sie halten inne und beobachten den Kraken, wie er immer wieder mit seinen langen biegsamen Tentakeln seinen Körper abzudecken versucht. Als wollte er sagen: «Ich bin gar nicht da.» Und doch linst er mit seinen gros­sen Augen wiederholt in Richtung der beiden Menschen.

Nach wenigen Minuten wird es dem Tintenfisch offenbar unheimlich. Schwups, und weg ist er. Entschwunden in seiner Höhle. «Ja, Oktopusse sind neugierig», bestätigt Fabian Schmidt, Kurator des Vivariums im Basler Zoo, wo auch schon Kraken zu sehen waren. «Sie haben individuelle Charaktere, es gibt forschere und vorsichtigere.» Sie wüssten durchaus, dass sie Feinde haben. Das Verhalten des Kraken bei Paros war fraglos Oktopus-mässig. Denn die Tiere reagieren aufmerksam auf verschiedene Ereignisse.

Dazu gehört auch die Interaktion mit Menschen, die sie nach Meinung von Experten voneinander unterscheiden können. Gewissen Tierpflegern verpassen sie – vielleicht zur Kontaktaufnahme – auch mal Wasserduschen. Oder sie spritzen, laut Schmidt, wenn es kein Futter gibt. Sei es den Höhlenbewohnern im Aquarium zu hell, könne auch eine Lampe einen Gutsch Wasser abbekommen. So hätten sie schon Kurzschlüsse provoziert.

Kraken sind zudem berüchtigte Ausbrecherkönige. Sie sind weich und kommen durch engste Schlitze hindurch. In einem deutschen Zoo ging ein Oktopus nachts zum Fischefressen immer wieder ins Nachbar­becken und kehrte in sein Becken zurück. «Sie nehmen wahr, was über und jenseits der Wasseroberfläche passiert», erklärt Schmidt.

Ihre Geschicklichkeit und Lernfähigkeit zeigen Kraken auch bei Matrjoschka-Experimenten. Wie bei den russischen Puppen sind dabei mehrere Konfi-Gläser ineinander verschraubt. Um an das Krabbenfleisch im innersten Glas zu kommen, müssen sie verschiedene Deckel und Verschlüsse öffnen – mal ist Drehen gefragt, mal Anheben. Schmidt hat beobachtet, dass sie am Anfang länger daran herumstudieren. Später gehe es schneller, was auf einen Lerneffekt hinweise.

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Aufwachsen ohne Eltern
Da Kraken, Sepien und Kalmare ohne Eltern aufwachsen, müssen sie sich dieses Können selber beibringen. Denn ein Tintenfisch-Leben ist kurz und schnell. Kaum eine Art wird älter als zwei, drei Jahre. Kopffüsser vermehren sich einmal im Leben und haben dann ihre Lebensaufgabe erfüllt, ihre Gene weiterzugeben, wie Schmidt erklärt. Die Männchen sterben aus unbekannten Gründen direkt nach der Paarung, die Sepien- und Kalmarweibchen bald nach dem Legen der Eier.

Krakenweibchen hingegen betreiben eine auszehrende Brutpflege. Je nach Art setzen sie bis zu 500 000 Eier ab, die sie je nach Wassertemperatur 30 bis 60 Tage lang ohne zu fressen bis zum Schlupf bewachen. Schmidt hat diesem Vorgang zweimal zugesehen: «Wie die Mutter ihre Eier beschützt, ist sehr beeindruckend.» Nach dem Schlupf stirbt sie entkräftet, während die Strömung ihren millimeterkleinen Nachwuchs verdriftet.

Kraken sind Einzelgänger und die Jungtiere müssen ganz alleine herausfinden, wie sie an Futter gelangen oder gefährlichen Meeresgenossen aus dem Weg gehen. «Es braucht Grips, um Nahrung zu jagen», sagt Schmidt. Oktopusse sind gefürchtete Jäger, aber Krabben wehrhaft. Überlegt der Krake sich nicht genau, wie er sie ergattern will, könnten ihre Scheren ihn empfindlich verletzen.

In der Tatsache, dass Tintenfische selbstständig überleben können müssen, sehen Experten den Schlüssel zum Geheimnis ihrer Intelligenz. Ist von Klugheit und Cleverness die Rede, geht es meist um den Oktopus. Doch auch andere Arten sind schlau. So haben Biologen in Taiwan herausgefunden, dass Sepien lieber eine Garnele jagen als zwei, wenn sie davor gelernt haben, dass sie für diese Entscheidung eine Belohnung erhalten.

Zuerst hatten die Tiere die Wahl zwischen einer leeren Box und einer, in der sich eine Garnele befand. Wer den Shrimp jagte, bekam einen weiteren. Im zweiten Testteil ging es um die Jagd auf einen Leckerbissen oder zwei – praktisch alle entschieden sich für den geringeren Aufwand. Wohl im berechnenden Wissen, dass es gratis einen zweiten Happen gibt. Die nicht trainierten Sepien dagegen schwammen in die Box mit zwei Garnelen.

Dies erinnert an den «Marshmallow-Test», bei dem Kindergartenkinder die Wahl hatten: Entweder die Süssigkeit sofort essen oder 15 Minuten darauf warten und ein zusätzliches Marshmallow erhalten. Doch von Vergleichen mit Kindern, Ratten, Affen oder Delfinen, die andere Probleme zu lösen haben, hält Schmidt nichts: «Ein Oktopus ist so intelligent wie ein Oktopus.»

So hat er ein komplexes Hirnsystem mit einem zentralen Hirn plus acht Nervenzentren, die bis in die äussersten Spitzen der acht Arme reichen. Zwei Drittel der 500 Millionen Nervenzellen befinden sich in den Tentakeln. Das führt dazu, dass Kraken jeden Arm unabhängig von den anderen bewegen und steuern können. Damit ergreifen sie Gegenstände und halten sie fest. Bei der Nahrungssuche tasten sie damit alles ab. Ab und an gehen sie an Land und krakeln in ein futterversprechendes Gezeitenbecken.

Grösseres Becken für Basler Oktopus
Im Wasser sind sie Meister der Tarnung. Kraken wechseln nicht nur in Windeseile ihre Farbe, sondern passen auch die Hautstruktur an die Umgebung an, so körnig wie der Sand beispielsweise. Die Farbe ist auch Ausdruck der Stimmung: Ein Oktopus wird weiss vor Angst oder Schreck und ärgert sich schwarz. Muss er sich wehren, hüllt er sich in eine Tintenwolke, damit der verwirrte Angreifer nicht sieht, wohin er entschwindet.

Ziemlich leicht zu finden sind die Höhlen der verspielten Oktopusse: Nachdem sie den Inhalt gefressen haben, spielen sie mit der Verpackung und legen sie vor ihrer Höhle ab. Zu den Muschelschalen und Schneckenhäusern gesellen sich Objekte wie Dosen oder Plastikflaschen, die sie zwar nicht fressen, zur Beschäftigung aber spannend finden. «Je älter ein Krake ist, umso mehr Spielzeug hat es vor seiner Höhle», sagt Schmidt.

So würden sie entdeckt und als Zwei- bis Dreijährige für Zoos gefangen, wo sie noch etwa sechs bis zwölf Monate leben. Der letzte Basler Krake starb im April 2020. Ein Nachfolger ist geplant, doch Corona verhinderte dies bisher. Zudem will der Zolli die Tiere künftig in einem zehnmal grösseren Becken halten. «Es ist aber noch nicht oktopussicher und muss zuerst dicht gemacht werden.»

Dass Zoos Oktopusse aus Wildfang halten, wird da und dort als nicht nachhaltig kritisiert. Schmidt kontert dies mit Zahlen: Für den menschlichen Verzehr würden jährlich 300 000 Tonnen gefangen. «Wenn jeder der rund tausend Zoos weltweit einen Oktopus halten würde, bräuchten wir 150 000 Jahre, um auf die gegessenen Mengen zu kommen.»