Wir schreiben das Jahr 1499. Die Franzosen unter König Ludwig XII erobern Mailand. Leonardo da Vinci, der vom Herzog der Stadt für diverse Projekte angestellt ist, flüchtet nach Venedig. In Portugal kehrt Vasco da Gama von seiner Seefahrt nach Indien zurück. Amerigo Vespucci entdeckt in Venezuela den Maracaibo-See. In der Schweiz besiegen die Eidgenossen in der Schlacht bei Dornach die Truppen des Königs und späteren Kaisers Maximilian I während des Schwabenkriegs, welcher einige Monate später mit dem Frieden zu Basel endet. In China herrscht die Ming-Dynastie. Und in den eiskalten Wassern des Nordatlantiks kommt eine kleine Muschel zur Welt.

Ming, die Islandmuschel (Arctica islandica), benannt nach ebendieser Dynastie, starb vor zehn Jahren im Alter von 507 Jahren und war damit das älteste, nicht in einer Kolonie lebende Tier, das je gefunden wurde. Ihr Leben liess Ming für die Forschung. 2006 sammelten Wissenschaftler der walisischen Bangor University im Zuge eines Projekts, das den Einfluss von Langzeitveränderungen des Klimas auf das Leben in den Ozeanen untersuchen will, etwa 200 Islandmuscheln am Schelf vor der Küste Islands ein. Alle Exemplare wurden noch auf dem Forschungsschiff eingefroren und starben.

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Die Islandmuschel Ming wurde 507 Jahre alt
und ist somit das älteste nicht in einer Kolonie
lebende Tier, das je gefunden wurde.
  Bild: Alan D Wanamaker Jr1, Jan Heinemeier,
James D Scourse, Christopher A Richardson1, Paul G Butler,
  Jón Eiríksson, Karen Luise Knudsen/CC BY 3.0

Um ein Jahrhundert verschätzt    
Erst im Labor merkten die Forscher um Paul Butler dann, dass sie hier eine ganz besondere Muschel gefangen hatten. Anhand der Jahrringe auf der Schale lässt sich das Alter von Islandmuscheln bestimmen. Bei Ming wurde dieses 2007 auf 405 Jahre geschätzt. Die Presse gab der Muschel daraufhin ihren Namen. Im Jahr 2013 merkten die Wissenschaftler dann, dass sie sich wegen der eng zusammenliegenden Jahrringen um ein ganzes Jahrhundert geirrt hatten. «Beim ersten Mal haben wir unsere Ergebnisse vielleicht ein wenig vorschnell veröffentlicht», sagte Butler damals zu der Webseite «ScienceNordic». «Aber wir sind uns absolut sicher, dass wir mit dem Alter diesmal richtig liegen.»

Wie viel länger Ming auf dem Meeresboden vor Island gelebt hätte, wenn die Wissenschaftler sie nicht in den Tiefkühler gesteckt hätten, ist nicht bekannt. Ihr Tod war aber nicht vergebens. «Die Islandmuschel liefert uns jährliche Aufzeichnungen der Meerestemperatur auf einem Zeitstrahl», erklärt Paul Butler. «Natürlich ist allein die Tatsache, dass wir ein Tier in die Hände bekommen haben, das 507 Jahre alt geworden ist, schon unglaublich faszinierend. Das wirklich Aufregende ist aber, was wir alles von ihm lernen können.»