Frau Lüber, Sie engagieren sich seit 1989 für den Meeresschutz. Den Meeren geht es aber trotzdem immer schlechter. Werden Sie nicht langsam müde?
Nein, gar nicht. Natürlich ist es frustrierend und tut manchmal sogar richtig weh, gerade aktuell wieder mit der Massenabschlachtung von Delfinen auf den Färöern. Aber wo wären wir heute, wenn es Organisationen wie OceanCare nicht gäbe? Dann würden die Meere wohl noch viel schneller zerstört werden. Drum bin ich nach wie vor so motiviert wie vor über 30 Jahren. Ich habe noch die gleiche Kraft wie früher und brenne für das, was ich tue. Zusätzlich lebe ich sehr stark nach dem Motto des englischen Novellisten Raymond Williams, der gesagt hat, wer wirklich radikal sein will, macht Hoffnung möglich, statt Verzweiflung zu bestätigen. Das passt sehr gut zu meinem Naturell.

Sie nehmen an Konferenzen teil, die den Schutz der Meere thematisieren. Als Aussenstehende beschleicht einem da manchmal das Gefühl, dass an solchen Tagungen viele grosse Worte gesprochen werden, denen dann keine Taten folgen.
Da bin ich dezidiert anderer Meinung. Ich habe gesehen, wie man an Konferenzen sowohl auf Policy-Ebene als auch bei den Abkommen selber mitgestalten kann, so dass Themen darin Platz finden, die vorher nicht zur Debatte standen. Natürlich muss man sich bewusst sein, dass es sich hier um extrem lange Prozesse handelt. Zehn Jahre dauert es normalerweise, bis eine Neuerung implementiert ist. Als ich jünger war, war ich auch ungeduldig und wollte, dass alles ganz schnell geht. Aber mit der Erfahrung und dem Leben habe ich realisiert, dass gut Ding Weile haben will.

Also kann man auf diesem Weg wirklich etwas bewirken?
Ja. Absolut.

Das Walfangmoratorium rettet jedes Jahr rund 27'000 Walen das Leben.

Sigrid Lüber

Was war Ihr grösster Erfolg mit OceanCare in all diesen Jahren?
Da gibt es viele. Zum einen, dass das Walfangmoratorium aufrechterhalten blieb, das die Walfangnationen jedes Jahr wieder angegriffen haben. Heute werden im Jahr ungefähr 3000 Wale getötet, früher waren es über 30'000. Das Moratorium rettet also jedes Jahr das Leben von rund 27'000 Walen. Das ist ein grosser und messbarer Erfolg. Aktuell freuen wir uns zudem über den Walmigrationskorridor zwischen den Balearen und dem spanischen Festland, der 2018 beschlossen wurde. Alle Ölsuchprojekte wurden daraus verbannt, so dass dort nun weniger Lärm entsteht. Ausserdem konnten wir diesen Sommer ein Pilotprojekt für ein Walwarnsystem im hellenischen Graben erfolgreich abschliessen.

Worum geht es da?
Durch den Suezkanal fahren all die grossen Frachtschiffe ins Mittelmeer – und zwar genau durch die Kinderstube der Pottwale. Südlich von Kreta lebt eine Population von etwa 200 Tieren. Ihr Gebiet kreuzen jährlich 80'000 Schiffe mindestens. Die Mehrheit der gestrandeten Pottwale in der Gegend stirbt durch Schiffskollisionen. Das Warnsystem «Save Moby» hört das Meer nach Walen ab und gibt ihre Position an ein Kontrollorgan weiter, das wiederum die Schiffe alarmiert, die sich in der Nähe befinden. Unser Pilotprojekt, hat gezeigt, dass dies ein Lösungsansatz ist, um Kollisionen zu vermeiden.

[IMG 2]

Sie haben den Lärm in den Meeren angesprochen, ein Thema, das Sie aufs internationale Parkett gebracht haben. Erzählen Sie mehr.
Was für uns Menschen die Augen sind, sind für Meereslebewesen die Ohren. Sie orientieren sich akustisch und brauchen das Gehör für sämtliche lebenswichtigen Funktionen: Für die Nahrungssuche, für soziale Interaktionen, um Paarungspartner zu finden und um Feinde zu entdecken, damit sie sich rechtzeitig in Schutz bringen können. Und das gilt nicht nur für Säuger, sondern für alle Tiere im Meer.

Der Lärm beeinträchtig also die Kommunikation der Meerestiere?
Genau. Und er kann sie auch verletzen. Intensive Lärmquellen wie eine Explosion oder ein Knall einer Druckluftkanone der Ölindustrie können innere Verletzungen von lebenswichtigen Organen hervorrufen. Die Lärmverschmutzung im Meer hat sich in gewissen Gebieten in den letzten 70 Jahren alle zehn Jahre verdoppelt sowie grundsätzlich überall massiv zugenommen.

Was gibt es für Lösungen?
Lärmobergrenzen, sowie räumliche und zeitliche Verbote können viel bewirken. Dazu gehören zum Beispiel Einschränkungen während den Migrationszeiten von Walen. Wir möchten, dass ein Lärmregister geschaffen wird, in dem alle menschlichen Aktivitäten eingetragen werden. Ist das Lärmbudget bereits ausgeschöpft, muss eine Aktivität verschoben werden. Ausserdem bemühen wir uns momentan stark darum, das Tempo der Schifffahrt um zehn Prozent zu verlangsamen. Das hätte nicht nur eine Lärmreduktion um 40 Prozent zur Folge, sondern würde auch noch 13 Prozent der Treibhausgase der Schifffahrt einsparen und wäre somit auch noch gut fürs Klima. Deshalb sind wir da mit Volldampf dran (lacht).

[IMG 3]

Zur PersonSigrid Lüber, aufgewachsen im Kanton St. Gallen, gründete 1989 die Meeresschutzorganisation OceanCare. 1992 nahm sie zum ersten Mal an einer Konferenz der Internationalen Walfangkommission (IWC) teil. Viele weitere Konferenzen folgten, nicht nur jene der IWC, sondern auch solche der UNO und multilateraler Umweltabkommen. Die ausgebildete Maschinenzeichnerin arbeitete lange Jahre im kaufmännischen Bereich, bevor sie ab 2003 nur noch für OceanCare tätig wär. Ihr umfangreiches Wissen über die Meere und seine Bewohner eignete sich Lüber selbst an. Heute spaziert die 66-Jährige am liebsten mit ihren beiden Hunden in der Natur.

Stossen Sie damit auf offene Ohren? Sind die Länder bereit, da mitzumachen?
Es braucht noch Überzeugungsarbeit. Es gibt aber schon mehrere Länder, die sehr offen sind, zum Beispiel Kanada und Belgien. Die Schifffahrt wäre auch bereit in gewissen Gebieten langsamer zu fahren, aber nicht überall. Und wenn, dann muss die Regel für alle gelten und nicht nur für eine Reederei. Was es auch zu bedenken gilt, ist, dass je nach dem dann die Zeitfenster zum Verladen im Hafen verpasst werden. Das Ganze ist ein komplizierter Prozess, an dem viel dranhängt. Aber all diese Aspekte fliessen in die Verhandlungen ein. Es ist nicht so, dass man hier auf eine totale Blockade stossen würde.

Wo liegen sonst die dringendsten Probleme?
Da ist natürlich der Plastik. Wir hatten vor kurzem hier in Wädenswil einen Clean-up-Day, bei dem wir aufgeräumt haben. Das ist zwar wichtig für die Aufklärung, aber es ist nicht die Lösung. Wir müssen dafür sorgen, dass der Plastik gar nicht mehr in die Natur und in die Meere gelangt. Seit 2018 setzen wir uns mit aller Kraft für ein rechtlich bindendes Abkommen ein, das die Plastikproduktion einschränkt. Die Industrie dagegen plant, die Plastikproduktion in den nächsten Jahren sogar noch um 30 bis 40 Prozent zu erhöhen. Wir werden uns also noch mit viel mehr Plastik konfrontiert sehen – überall.

Wie denken Sie, werden die Ozeane in 20 bis 30 Jahren aussehen?
Ich bin keine Prophetin und auch keine Hellseherin, aber mir entgeht nicht, dass das Bewusstsein wächst – auch auf Seiten der Politik. Wenn ich denken würde, es sei alles verloren, dann gäbe ich auf. Und ich bin kein Mensch, der aufgibt. Das war ich noch nie. Aber es braucht den Einsatz von uns allen. Wir hängen zu sehr von der Natur ab.

[IMG 4]

Wenn wir das Meer geniessen wollen, müssen wir es auch schützen.

Sigrid Lüber

Sollte das nicht erst auf Gesetzesebene geregelt werden?
Ja, die Regierung sollte Gesetze erlassen, aber jeder und jede Einzelne kann auch ohne Gesetz einen Beitrag leisten. Ich muss nicht warten, bis die Regierung mir sagt, was ich tun muss. Ich muss das tun, was ich jetzt schon tun kann. Und zwar sofort. Das, so denke ich, wird einen Einfluss darauf haben, wie die Meere 2050 aussehen werden. Ich persönlich bin hoffnungsvoll, weil ich sehe, wie die Sensibilisierung voranschreitet. Wir erhalten bei OceanCare sehr viele Mails von Menschen, die etwas tun möchten. Ich nehme mir gerne Zeit, diesen Menschen einen Rat zu geben.

Und der wäre?
In den Ferien zum Beispiel lieber mit dem Stand-up-Paddel rauszufahren als mit dem Jetski. Wenn man gerade keine Sonnencrème ohne Schadstoffe oder hormonaktive Substanze findet, tut es auch ein leichtes Shirt oder eine Hose mit UV-Schutz im Stoff. Und statt im Laden abgefülltes Wasser zu kaufen, kann man eine Wasserflasche mitnehmen. Es gibt sehr viele kleine Dinge, die man tun kann.

Was entgegnen sie den Menschen, die finden, das gehe uns hier in der Schweiz nichts an, wir haben ja gar kein Meer? Wir sind ja so klein, andere verschmutzen viel mehr, sollen die doch schauen?
Das ist ein Trugschluss. Wenn wir etwas fallen lassen, wird es vom Wind ins Wasser getragen. Und alle Bäche fliessen in Flüsse und alle Flüsse fliessen ins Meer. Auch wir tragen viel zur Verschmutzung bei. Durch unsere Flüsse gelangt extrem viel Mikroplastik ins Meer. Das Meer geht uns auch etwas an, sehr viel sogar. Fast alle Schweizerinnen und Schweizer reisen einmal im Jahr ans Meer. Das Mittelmeer ist unser Hausmeer. Wenn wir es geniessen wollen, müssen wir es auch schützen. Ich glaube zudem, dass es nichts bringt, kleine Probleme mit grösseren zu entschuldigen. All diese Gefahren wirken zwar einzeln auf die Meere ein, aber sie kumulieren sich.

Und schlussendlich ist ja das Meer überlebenswichtig für uns alle.
Absolut. Das Meer absorbiert bis zu 50 Prozent des weltweiten CO2-Ausstosses. Es bremst die Klimaerwärmung. Wir alle haben ein vitales Interesse daran, es zu schützen.

Wir werden uns noch mit viel mehr Plastik konfrontiert sehen – überall.

Sigird Lüber

Wird der Klimawandel irgendwann auch den Golfstrom anhalten?
Ich weiss nicht, ob das je passieren wird, aber die Meeresströme haben ganz sicher einen grossen Einfluss aufs Klima, auf die Temperatur und vieles Weitere. Wie gesagt, wir müssen jetzt wirklich aktiv werden.

Sonst wird es dann unangenehm bei uns.
Wir bekommen es ja jetzt schon zu spüren mit den Regenfällen, die wir diesen Sommer hatten. Die Schweiz hat sehr viel in den Hochwasserschutz investiert, darum hatten die Überschwemmungen bei uns nicht solche verheerenden Auswirkungen wie in Deutschland. Die Seen und Flüsse hier sind extrem gut abgestimmt. Es ist klar geregelt, wo wie viel Wasser abgelassen werden darf und welche Seen über die Ufer treten dürfen, ohne zu viel Schaden anzurichten. Aber irgendwann werden uns diese Feinjustierungen auch nicht mehr helfen.

Ocean CareDie Geschichte von OceanCare beginnt 1989 als «Arbeitsgruppe zum Schutz der Meeressäuger», die im selben Jahr erfolgreich den Bau eines Delfinariums in Martigny VS verhindert. Heute ist die Organisation mit Sitz in Wädenswil ZH eine international anerkannte Stimme für die Meere, die ausgezeichnete Kontakte zu Entscheidungsträgern im In- und Ausland pflegt. 2011 erhielt OceanCare zudem den UNO-Sonderberatungsstatus für Meeresschutz. In Wädenswil erinnerte während Jahren eine aus dem Zürichsee herauslugende Walfluke an das Engagement von OceanCare. Den schneereichen Winter 2005 überlebte die Skulptur aber leider nicht. Sie knickte unter der Last ein.

Jetzt hören Sie aber bald bei OceanCare auf.
Aufhören tue ich nicht, aber ich übergebe die Leitung von OceanCare meiner Nachfolgerin Fabienne McLellan. Und das tue ich mit einem sehr guten Gefühl. Fabienne McLellan ist seit 2014 bei uns und ich habe sie von langer Hand darauf vorbereitet, diese Aufgabe zu übernehmen. Ich bleibe weiterhin Präsidentin unseres Vereins und bin auch noch da, um zu beraten zu unterstützen, wo es mich braucht.

Wie kommt man als Schweizerin aus einem Binnenland überhaupt dazu, eine Meereschutzorganisation zu gründen?
Über 20 Jahre lang habe ich an den schönsten Orten der Welt getaucht. Die Unterwasserwelt finde ich einfach magisch. An Weihnachten und Neujahr 1988/89 war ich mit meinem Mann auf den Malediven in den Ferien. Bei einem Tauchgang hörten wir Delfine, sahen sie aber nicht. Als meine Tauchflasche schon auf Reserve war, gab mir mein Mann ein Zeichen, vom Riff wegzuschwimmen. Und plötzlich waren etwa 50 oder 60 Delfine vor uns! Der Schwarm teilte sich und schwamm um uns herum. Als ich danach auftauchte, sagte ich zu meinem Mann: «Jetzt weiss ich, was ich in meinem Leben machen will!» Aber auch heute noch kann ich jederzeit die Augen schliessen und diesen Moment abrufen. Er nährt mich noch heute.

Wenn Sie nun bald wieder mehr Zeit haben, werden Sie wieder tauchen gehen?
Nein. Ich denke, es gibt im Leben für alles seine Zeit. Ich konnte sehr schöne Tauchgänge erleben, aber jetzt habe ich zwei Hunde und ich finde, von den Ferien sollten alle etwas haben. Deshalb machen wir lieber Wanderferien. Zweimal im Jahr gehe ich mit den Hunden in organisierte Ferien, in denen ich mit ihnen arbeite. Ich habe mein Leben immer gelebt und gehöre nicht zu denen, die im Alter noch alles aufholen müssen. Ich bin so viel gereist, auch für OceanCare, dass es mir sogar ganz recht ist, dass ich das nun nicht mehr so viel tun muss.