Da stockt einem der Atem: Matt E. Braunwalder greift in einem ausgedienten Steinbruch am Fusse des Monte Generoso im Südtessin unter einen kleinen Felsbrocken – und hält plötzlich einen Skorpion zwischen den Fingern. Behutsam – als wäre es ein Regenwurm – legt er sich das Tier auf die Innenfläche der Hand und spricht mit ihm, wie wenn es sich um ein kuscheliges Haustier handeln würde. Es ist ein Euscorpius italicus, die mit bis zu fünf Zentimetern Körperlänge grösste Skorpionart der Schweiz. Das Tier rollt seinen Giftstachel wieder in Ruhestellung. Nichts ist passiert, alles in Ordnung!

Das war an jenem Tag in Indonesien nicht so: Braunwalder wollte die verholzte Blattscheide eines Bananenbaums untersuchen und sah die lauernde Gefahr auf der Unterseite nicht. Der Skorpion der Art Lychas mucronatus stach zu. «Ich spürte höllische Schmerzen, dann sah ich alles verschwommen, bekam Kopfweh und Herzrhythmusstörungen und musste erbrechen», erzählt er. Das nächste Spital war 150 Kilometer weit weg, also hielt er seinen Arm ins Meerwasser, um ihn zu kühlen. Das nützte allerdings nichts, im Gegenteil: Die Schmerzen wurden stärker. Erst 18 Stunden später ging dieser Alptraum zu Ende, «eine Zeit, die ich nicht noch einmal in meinem Leben durchmachen möchte», wie Braunwalder rückblickend sagt. «Erst viel später erfuhr ich, dass man Skorpionstiche nicht kühlen, sondern mit Hitze behandeln soll.»

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Matt E. Braunwalder nimmt Skorpione auf die Hand wie andere
Leute Käfer.
  Bild: Ruedi Weiss

Liebe auf den zweiten Blick
Dieses Erlebnis in Indonesien war zwar eines der dramatischsten im Leben des heute bald 70-jährigen Skorpionforschers, aber von weiteren Stichen blieb er trotz jahrelanger Erfahrung nicht verschont, ganz im Gegenteil: «Ich wurde in meinem Leben bereits über 200 Mal von Skorpionen gestochen, allerdings von meist weniger giftigen als diesem in Indonesien», ergänzt er während des Gesprächs ganz beiläufig.

Dass die giftigen Spinnentiere sein Leben veränderten und prägten, verdankt Braunwalder einem Zufall: Zwar interessierte er sich schon als Kind für alles, was kreucht und fleucht. Doch beruflich arbeitete er jahrelang in der Werbe- und Filmbranche (Höhepunkt: Aufnahmeleiterassistent beim James-Bond-Film «Im Geheimdienst Ihrer Majestät»). Als Hobby hielt er zu Hause im Keller Schlangen und Echsen. 

Eines Tages schenkte ihm ein Freund einen ursprünglich in den tropischen Wäldern West- bis Zentralafrikas beheimateten, etwa 20 Zentimeter grossen Kaiserskorpion. Dieses Geschenk war für Braunwalder zwar nicht Liebe auf den ersten Blick: «Aber je länger ich das Tier pflegte und beobachtete, umso mehr faszinierte es mich und ich wollte mehr über diese und andere Skorpionarten wissen.» 

Als Recherchen in Universitätsbibliotheken nicht zum Erfolg führten, kontaktierte er Experten auf der ganzen Welt. Dafür gab er zwar seine beruflichen Aktivitäten nicht auf, aber er suchte und forschte in seiner Freizeit als Autodidakt akribisch weiter und erarbeitete sich so ein profundes Fachwissen. 1986 gründete er «Arachnodata», die bisher weltweit einzige Informations- und Beratungsfachstelle für Skorpione und Spinnentiere. 

An Fachtagungen und auf Exkursionen
Die besten Anschauungs- und Forschungsobjekte sind für Braunwalder die rund 100 lebenden und etwa 5000 konservierten Skorpione im Keller seines kleinen Hauses am Fusse des Zürcher Uetlibergs, das er seit 30 Jahren mit seiner Frau bewohnt. Daneben steht dem Forscher seine Fachbibliothek mit über 5000 Publikationen zur Verfügung. In den letzten 30 Jahren hielt er Vorträge im In- und Ausland, besuchte oder referierte an Fachtagungen, organisierte im Tessin Exkursionen für Fachleute und interessierte Laien und beriet Ärzte, die von Patienten wegen eines Skorpionstichs aufgesucht wurden. Er war auch publizistisch tätig und veröffentlichte die Resultate seiner wissenschaftlichen Forschungsarbeiten in Zeitungsartikeln und internationalen Fachzeitschriften und verfasste ein Standardwerk («Scorpiones», erschienen 2005 in der Reihe «Fauna Helvetica» des Schweizer Zentrums für die Kartografie der Fauna in Neuenburg).

Heute muss Braunwalder aus gesundheitlichen Gründen etwas kürzertreten. Er hat seine Feldforschungsaktivitäten stark reduziert und konzentriert sich weitgehend auf das Inventarisieren seines umfangreichen Datenmaterials. Abgänge seiner lebenden Exemplare ersetzt er nicht mehr und er wünscht sich, dass das Naturhistorische Museum Basel dereinst seine Sammlung und den Forschungsnachlass übernimmt. 

«Ehrlich gesagt, wissen wir noch sehr wenig über Skorpione», räumt Braunwalder ein. Fest steht für ihn jedoch – und das fasziniert ihn besonders an diesen seit 350 Millionen Jahren existierenden Tieren mit ihren acht Beinen, den zwei kräftigen Greifzangen und dem Giftstachel am Ende des Schwanzes: «In dieser langen Zeit hat sich der Körperbau der Skorpione kaum verändert, weil sie von Anfang an anscheinend perfekt gebaut waren. Solche Tierarten gibt es nur ganz wenige.»

Artgenossen auf dem Speiseplan
Die meisten Skorpionarten sind Einzelgänger, die nur zur Paarungszeit zusammentreffen. Sie sind ausschliesslich nachtaktiv und ernähren sich von wirbellosen Tieren wie Insekten, Tausendfüsslern, Spinnen, Würmern, Schnecken oder von kleinen Wirbeltieren wie Nagern, Schlangen und Eidechsen. Beim Beutefang setzen Skorpione die beiden Greifzangen und den Giftstachel ein, den sie in weniger als einer Sekunde über ihren Kopf hinweg führen und das Gift in das Beutetier injizieren. Skorpione sind durchaus in der Lage, über viele Wochen oder Monate hinweg ohne Nahrung auszukommen, da ihr Ruhestoffwechsel kaum Energie verbraucht.

Andererseits haben aber auch Skorpione natürliche Feinde und sind eine beliebte Beute für Eulen, Eidechsen, Schlangen, grosse Frösche und Säugetiere. Ausserdem jagen viele Skorpione selbst andere Skorpione. «Weil sie Kannibalen sind, muss man keine Angst haben, wenn man mal einen Skorpion im Hause hat», beruhigt Braunwalder scherzend. «Er wird fast sicher der einzige bleiben.» 

Überhaupt hat Braunwalder einen schier unerschöpflichen Fundus an Fakten und Geschichten über die giftigen Spinnentiere. So hat er beobachtet, dass jeder einzelne Skorpion – im Gegensatz zu anderen Tierarten oder auch zu den Menschen – sein eigenes Entwicklungstempo hat. Selbst unter Geschwistern gebe es riesige Unterschiede – und darin liege wohl das Geheimnis des Jahrmillionen langen Erfolgs dieser Tiere. «Egal, wie sich die Umweltbedingungen verändern, dank ihres individuellen Entwicklungstempos überleben ein paar Skorpione immer», sagt Braunwalder – und hebt auf der Suche nach dem Euscorpius italicus den nächsten Stein im ausgedienten Steinbruch bei Arzo. 

www.arachnodata.ch