Ohne den Magnetsinn der Vögel zu erahnen, nutzten ihn die Menschen bereits in der Antike. Denn schon damals liessen sie wichtige Nachrichten von Tauben verbreiten, die bekanntlich die Fähigkeit haben, aus Hunderten von Kilometern Entfernung zu ihrem Schlag zurückzufinden. Tauben sind aber bei weitem nicht die einzigen Vögel mit diesem erstaunlichen Orientierungsvermögen. Am extremsten zeigt es sich bei Zugvögeln, die teilweise Tausende von Kilometern zurücklegen, aber trotzdem immer wieder zu demselben Winterquartier zurückkehren.

Wenn sich Menschen in unbekanntem Gelände orientieren sollen, brauchen sie einen Kompass, der ihnen anhand des Erdmagnetfelds anzeigt, wo Norden und wo Süden ist. Eigentlich ist es naheliegend, dass Vögel ebenfalls das Erdmagnetfeld verwenden. Doch als Mitte des 19. Jahrhunderts ein Ornithologe diese Idee äusserte, stiess er auf wenig Verständnis. Noch vor fünfzig Jahren galt der Magnetsinn der Vögel als nicht bewiesen.

Experimente mit Rotkehlchen
Bis heute ist nicht vollständig geklärt, wie der Magnetsinn funktioniert. Aber dass er existiert, konnten Experimente einwandfrei zeigen. Es begann in den 1950ern, als Forscher Rotkehlchen in einen Käfig setzten und beobachteten, in welche Richtung die Vögel zur Zugzeit hüpften. Im Herbst bevorzugten sie eindeutig den Südwesten. Da Rotkehlchen in der Nacht fliegen, vermuteten die Wissenschaftler erst, dass sich die Vögel dabei an den Sternen orientierten. Doch als sie ihnen den Blick auf den Himmel verhüllten, zeigten die Rotkehlchen noch immer dasselbe Verhalten. Die Vögel mussten also eine andere Methode haben, um die richtige Richtung zu erkennen.

Die Forscher legten daraufhin den Käfig ein künstliches Magnetfeld um den Käfig. Und siehe da: Wenn sie die Ausrichtung des Magnetfelds veränderten, änderte sich auch die bevorzugte Hüpfrichtung der Rotkehlchen. Ähnliche Ergebnisse zeigten sich in Studien mit anderen Vogelarten, und somit war bewiesen: Vögel haben einen inneren Magnetkompass.

Die innere Landkarte
So weit, so gut. Doch nun stellen Sie sich vor, Sie würden an einem unbekannten Ort ausgesetzt und müssten nach Hause finden. Da nützt Ihnen der Kompass erst dann etwas, wenn Sie auch wissen, wo sie sich befinden. Vögel müssen also neben dem Magnetkompass über eine Art innere Karte verfügen. Erstaunlicherweise scheinen sich die Vögel auch diese via Magnetfeld der Erde zurechtzulegen – inzwischen hat sich der Begriff «magnetische Landkarte» eingebürgert.

Vögel haben also nicht nur einen, sondern sogar zwei Sinne für Magnetismus. Bleibt die Frage, mit welchem Organ sie das Magnetfeld wahrnehmen. Auch hier waren Experimente mit Rotkehlchen aufschlussreich. Es zeigte sich nämlich, dass diese ihre bevorzugte Hüpfrichtung auch dann dem Magnetfeld anpassten, wenn ihr linkes Auge abgedeckt war – wenn aber das rechte abgedeckt wurde, verloren sie die Orientierung. Mit anderen Worten: Der Magnetsinn sitzt im rechten Auge. Vereinfacht kann man also sagen, dass die Vögel das Magnetfeld sehen. Inzwischen entdeckten Forscher zudem winzige magnetische Kristalle in den Schnäbeln von Vögeln. Diese könnten für die zweite Art von Magnetsinn, die magnetische Landkarte, zuständig sein.

Vögel sind nicht die Einzigen
Während der Magnetsinn bei Vögeln am besten erforscht ist, gibt es eine Reihe anderer Tierarten, die das Magnetfeld der Erde ebenfalls wahrnehmen, zum Beispiel Schmetterlinge, Meeresschildkröten, Salamander, Frösche und Fische. Kürzlich haben deutsche Forscher zudem herausgefunden, dass sich Hunde beim Pinkeln am liebsten nach Norden oder Süden ausrichten. Ob der Magnetsinn den Hunden in irgendeiner Weise einen Nutzen bringt, ist allerdings nicht geklärt.

Literaturtipp:
Der britische Vogelkundler Tim Birkhead geht in «Die Sinne der Vögel» der Frage nach, wie es ist, ein Vogel zu sein. Jedem Sinn – Sehen, Hören, Tasten, Schmecken, Riechen, Magnetsinn – widmet er ein Kapitel und wagt sich schliesslich gar an die Gefühle der Vögel. Er verbindet dabei wissenschaftliche Korrektheit mit einer leicht verständlichen Sprache. Der Autor ist Professor für Verhaltensforschung und Wissenschaftsgeschichte. Entsprechend erzählt er im Buch nicht nur, was die Wissenschaft über die Vögel weiss, sondern zeigt auch, wie das Wissen entstanden ist. Dabei streut er immer wieder Anekdoten aus seiner eigenen Forscherkarriere ein. So schafft er es, den Lesern auf unterhaltsame Weise Fakten zu vermitteln.

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Tim Birkhead: «Die Sinne der Vögel oder Wie es ist, ein Vogel zu sein»
Gebunden, 210 Seiten

Mit Zeichnungen von Katrina van Grouw
Verlag Springer Spektrum 2015

ISBN 978-3-662-45117-5
ca. CHF 35.-