Lautlos und unerkannt, fast wie ein Geist, streift sie durch die Wälder. In der Nacht geht sie auf die Jagd. Mit ihren scharfen Sinnen sieht und hört sie alles, aber die wenigsten haben sie schon jemals gesehen. Die Europäische Wildkatze ist nach wie vor ein kleines Enigma. Obwohl sie bereits seit Jahrtausenden da ist, gibt es immer noch vieles über sie, das unbekannt und unergründet ist.

Auch in der Schweiz war die Wildkatze einst zahlreich verbreitet. Im Mittelland, im Tessin und im Jura kam sie vor. Im 18. und 19. Jahrhundert allerdings blieb ihr dasselbe Schicksal, das auch andere einheimische Raubtiere wie Wolf, Luchs und Bär heimsuchte, nicht erspart. Sie galt als Schädling und den Jägern als Konkurrenz und wurde erbarmungslos verfolgt und gejagt – vielleicht sogar bis zur Ausrottung.

«Ob die Wildkatze je ganz aus der Schweiz verschwunden war, ist bis heute unklar», sagt Lea Maronde. Die Wildtierbiologin leitet bei der Stiftung Kora das Wildkatzenprojekt und will herausfinden, welche Faktoren die Ausbreitung der Wildkatze fördern und welche Massnahmen helfen, damit sie erhalten bleibt. Es sei möglich, dass sich im Jurabogen kleine Restbestände der Wildkatze hätten halten können, sagt Maronde. «Da die Wildkatze nur sehr schwer zu beobachten ist und es zu dieser Zeit moderne Methoden zum Nachweis der Art wie Fotofallen und Genetik noch nicht gab, ist dies nicht ausgeschlossen.»

Im Jura ist es denn auch, wo die Wildkatze heute vor allem heimisch ist. Seit den 1990er-Jahren scheint sie sich dort wieder auszubreiten. Die Tiere wanderten wahrscheinlich auch vom benachbarten Frankreich her ein, wo gemäss Maronde die Bestände der Wildkatze wie im gesamten europäischen Verbreitungsgebiet ebenfalls stark dezimiert wurden. Aber: «In Frankreich gibt es nach wie vor grosse, zusammenhängende Waldgebiete, in die sich die Wildkatzen zurückziehen konnten. So konnte sich die Population vermutlich halten.»

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Strassen schaden der Wildkatze
In den letzten zehn Jahren nun gelang es der Wildkatze, ihre besiedelte Fläche im Jura zu verdoppeln. Zu diesem Schluss kommt der Verein Wildtier Schweiz im kürzlich veröffentlichten Abschlussbericht des zweiten nationalen Wildkatzenmonitorings im Auftrag des Bundesamtes für Umwelt. In einer auf mathematischen Modellen basierenden Schätzung wird die Anzahl der in unserem Land lebenden Wildkatzen mit 2200 bis 2500 Tieren angegeben. 

Die höchste Dichte erreicht die Wildkatze im nördlichen Jura, doch auch am äussersten Ende des Jurabogens, im Kanton Schaffhausen, wurde die Art schon nachgewiesen (siehe «Tierwelt» Nr. 26 / 2019). Ausserhalb des Juras, im Mittelland und an der Alpennordflanke, kommt die Wildkatze noch nicht regelmäs­sig vor. Doch auch hier belegen Zufallsfunde, dass sich das eine oder andere Tier zumindest schon mal vorbeigeschlichen haben muss.

«Ein Habitatmodell aus unserem Projekt hat gezeigt, dass es in den Alpen und vor allem in den Voralpen tatsächlich geeigneten Lebensraum für die Wildkatze gibt», erzählt Lea Maronde. «Wir haben beim Fotofallen-Monitoring des Luchses in den Alpen auch schon vereinzelt Wildkatzen fotografiert.» Ob sich die Wildkatze aber dort etablieren könne, sei derzeit noch ungewiss.» Denn für die Wildkatze ist die intensive Landnutzung im Mittelland und in den Voralpen mit der damit einhergehenden Zerschneidung ihres Lebensraums ein Problem. Ist dieser strukturreich und vernetzt, etwa durch Hecken oder Baumreihen, fühlt die Wildkatze sich besonders wohl. So kann auch ein Austausch zwischen Vorkommen stattfinden. Sonst drohen ihr am Ende Inzucht und Krankheiten. 

Eine Ausbreitung in neue Gebiete werde zudem oft durch das dichte Strassennetz erschwert, erklärt Maronde. «Viele Wildkatzen sterben heutzutage auf den Strassen.» Erhalte die Wildkatze in diesen Belangen aber Unterstützung durch die Menschen, könne es ihr gelingen, sich auch über den Jura hinaus zu behaupten, glaubt die Expertin. Darüber freuen würden sich bestimmt viele: «Die Wildkatze ist heute eine Sympathieträgerin und ihre Rückkehr wird von grossen Teilen der Bevölkerung begrüsst. Negative Stimmen habe ich bisher nur wenige gehört.»

Paarung mit Hauskatzen
Und auch die nötige Anpassungsfähigkeit bringt die Wildkatze mit. Lange dachte man, die Art komme lediglich im Wald vor. Felis silvestris lautet ihr wissenschaftlicher Name, was so viel bedeutet wie «Waldkatze». Doch neue Untersuchungen zeigen immer mehr, dass die Wildkatze sich auch in offenen Lebensräumen häuslich einrichten kann. Dies tut sie zum Beispiel im Naturschutzgebiet Fanel am Neuenburgersee und dem dahinterliegenden Grossen Moos mit seinen Gemüsefeldern. In diesem Gebiet gibt es zwar keinen Wald, aber mit vielen Hecken und viel Schilf dennoch jede Menge geeignete Unterschlupfe. Im Fanel scheint es der Wildkatze so gut zu gefallen, dass sie dort auch schon Junge aufgezogen hat.

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Sollte sich die Wildkatze allerdings weiter ausbreiten, könnte ihr auch vermehrt neues Ungemach drohen – und zwar von der Hauskatze. Gerade im dicht besiedelten Mittelland gibt es besonders viele von den Büsi. Und Wildkatzen paaren sich doch hin und wieder mit Hauskatzen, besonders mit verwilderten. Das passiert wahrscheinlich vor allem dann, wenn wenig andere Wildkatzen vorhanden sind und diese keinen Partner ihrer eigenen Art finden können. Die aus solchen Begegnungen hervorgehenden Jungtiere sind dann Mischformen von Haus- und Wildkatze, sogenannte Hybriden. 

Wie Wildtier Schweiz schreibt, liege der Anteil der Hybriden in der Wildkatzenpopulation momentan bei rund 15 Prozent, ein ähnlicher Wert, der bereits das erste Wildkatzenmonitoring vor zehn Jahren ergab. Momentan möge die Hybridisierungsrate manchen als gering erscheinen, heisst es im Abschlussbericht. Die Frage sei aber vielmehr, ob sie gering genug ist, um unproblematisch zu sein. Denn unverändert könnte sie in den nächsten Jahrhunderten trotzdem dazu führen, dass die Wildkatze sich der Hauskatze angleicht. Das bedeutet, dass gewisse Wildkatzen-Gene nach und nach verloren gehen könnten und die Wildkatze somit der Hauskatze genetisch ähnlicher werden könnte. 

Hybridisierung eindämmen
Die Biologin Beatrice Nussberger, die bei Wildtier Schweiz für das Wildkatzenmonitoring verantwortlich ist, erklärt, warum das nicht gut ist: «Es würde einen Verlust an genetischer Vielfalt bedeuten. Je mehr genetische Vielfalt vorhanden ist, desto besser kann ein Lebewesen auf Veränderungen der Umwelt reagieren.» So wäre es etwa denkbar, dass Hybriden, die viele Hauskatzen-Gene in sich tragen, bei einer plötzlichen, längeren Kälteperiode Probleme bekommen. 

Während die Wildkatze hervorragend ans europäische Klima angepasst ist, verkriecht sich ein Stubentiger bei grosser Kälte lieber unters Ofenbänkli. Die Hauskatze nämlich stammt von der Afrikanischen Wildkatze Felis lybica ab, die ebenda heimisch ist. Darum mögen es die Büsi auch nach Jahrhunderten in Europa noch immer am liebsten sonnig und warm. Für eine Wildkatzenpopulation mit vielen Hybriden könnte dies im schlimmsten Fall sogar bedeuten, dass sie lokal ausstirbt. 

Allerdings, wisse man laut Nussberger noch nicht, welche konkreten Auswirkungen die Hybridisierung tatsächlich hat. Dazu bedarf es weiterer Forschung, da es zurzeit noch keine Daten dazu gibt, wie hoch die Überlebenschancen und der Fortpflanzungserfolg der Hybriden wirklich sind. 

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Trotzdem gelte es, die Hybridisierung einzudämmen. «Der Mensch hat die Hauskatze in den Lebensraum der Wildkatze gebracht und dies in unnatürlich hoher Anzahl. Man kann es darum als eine menschliche Pflicht ansehen, die Hybridisierung zu minimieren – zumindest solange wir einen negativen Effekt nicht ausschliessen können», sagt Nussberger. Um dies zu erreichen, ist es einerseits wichtig, die Hauskatzen im Wildkatzengebiet zu kastrieren. Andererseits könne man mit Lebensraumaufwertung die Wildkatze fördern, denn diese paart sich immer noch am häufigsten mit ihresgleichen. Nussberger plädiert deshalb für «mehr ungestörte Waldwildnis».

Ein Geist mit vielen Geheimnissen
Wie, wo und wann sich Hauskatzen und Wildkatzen überhaupt treffen, das untersuchte Matthias Hertach für seine Masterarbeit bei der Kora. Dazu verglich er die über vier Monate gesammelten Daten von besenderten Tieren. Wie sich herausstellte, überschneiden sich die Streifgebiete der beiden Katzenarten durchaus. Hertach fand über 2000 GPS-Punkte, an denen sich Haus- und Wildkatze innerhalb von hundert Metern aufgehalten hatten.

Zu einem Zusammentreffen kam es aber innerhalb dieses Experiments nicht. Hauskatze und Wildkatze waren nie zur selben Zeit am selben Ort. «Der kleinste zeitliche Unterschied betrug vier Stunden», sagt Hertach. Das war in einem Weiler, der sich direkt am Waldrand befindet. Die dort ansässige Wildkatze kommt beim Durchstreifen ihres mehrere Hektaren grossen Gebiets regelmässig am Weiler vorbei, während die besenderte Hauskatze, ein junges Männchen, sich vor allem um diesen herum aufhält.

Was die Wildkatze sonst noch alles macht und ob vielleicht andere Hauskatzen trifft, die keinen Sender tragen, entzieht sich Hertachs Kenntnissen. «Ich bin überzeugt, dass Hauskatzen und Wildkatzen voneinander wissen», sagt er. «Was sie mit dieser Information anstellen, wie sie sich verhalten und wie sie reagieren, das wissen wir leider noch nicht.»

Die Wildkatze hat also noch längst nicht alles von sich preisgegeben. Sollte sie sich weiter ins Mittelland ausbreiten, wird es wohl auch noch eine Weile ihr Geheimnis bleiben, ob und wie es zu einem Beschnuppern mit einer Hauskatze kommt. Und wer weiss, vielleicht ist sie ja auch schon längst an Orten vorbeigekommen, wo man sie nicht vermuten würde. Denn wie alles, was sie tut, tut sie auch dies lautlos wie ein Geist.

Zum Wildkatzenprojekt der Kora
Informationen zur Wildkatze von der Kora

Die Ergebnisse des Wildkatzenmonitorings von Wildtier Schweiz
Publikationen und Links zur Wildkatze von Wildtier Schweiz