Als der Ornithologe Adrian Aebischer vor 15 Jahren begann, sich mit dem Rotmilan zu beschäftigen, war er in Aebischers Heimatkanton Freiburg noch eine Seltenheit; ihn am Himmel kreisen zu sehen ein besonderes Ereignis. Denn wie Bartgeier, Bär und Wolf war er im 19. Jahrhundert verfolgt, gejagt, geschossen, vergiftet worden. «Ganz ausgerottet wurde er wahrscheinlich nicht», sagt Aebischer. Aber stark dezimiert. Im Jahr 1925 stellte man den mit einer Flügelspannweite von bis zu 1,7 Meter drittgrössten einheimischen Greifvogel – nach dem Steinadler und dem Bartgeier – unter Schutz, doch bis in die 1950er-Jahre wurde er weiterhin abgeschossen, vergiftet, seine Horste geplündert.  

Erst danach erholte sich die Population allmählich. Als man im Jahr 1969 erstmals eine landesweite Bestandsaufnahme durchführte, brüteten an die 90 Rotmilan-Paare in der Schweiz, fast ausschliesslich im Nordwesten des Landes. Mitte der 1980er-Jahre zählte man an die 300 Brutpaare, und in den letzten 20 Jahren breitete sich der Rotmilan rasant Richtung Südwesten aus. Heute schätzt die Vogelwarte Sempach den Bestand auf 1200 bis 1500 Brutpaare. 

Noch immer gejagt und vergiftet
Laut Aebischer brütet er ausser in den Kantonen Genf und Tessin in allen Gebieten unter 800 Metern über Meer, und in den letzten Jahren habe sich der Vogel auch in grössere Höhen gewagt und begonnen, sich in grosse Alpentäler im Wallis, Berner Oberland und Graubünden auszubreiten. Dieses Jahr brütete ein Rotmilan-Pärchen in Graubünden gar auf einer Höhe von 1500 Metern über Meer – mit Erfolg. «Das ist ein Weltrekord», sagt Aebischer. 

Noch hat der Rotmilan nicht sein ganzes ehemaliges Brutareal zurückerobert, aber gefährdet ist er in der Schweiz nicht mehr. Selbstverständlich ist das nicht, wie ein Blick ins Ausland zeigt. Die Schweizer Exemplare machen zwischen fünf und zehn Prozent des gesamten europäischen Bestandes aus, der auf rund 20 000 bis 25 000 Brutpaare geschätzt wird. «Rechnet man die Anzahl Vögel pro Flächeneinheit aus, haben wir die höchste Dichte überhaupt», sagt der Ornithologe. «Die Schweiz ist eines der wenigen Länder, in denen sowohl Winter- als auch Brutbestände zunehmen.» In Frankreich und Spanien – beides wichtige Verbreitungsgebiete – nehmen sie ab. Zum Beispiel deshalb, weil Rotmilane noch immer vergiftet oder geschossen würden, obschon es heute verboten sei. «Aber manchmal werden sie auch ganz legal vergiftet.» So sei etwa im Nordosten Frankreichs die Giftsubstanz Bromadiolon in grossen Mengen eingesetzt worden, um Schermäuse zu bekämpfen. Das Gift lässt die Nager innerlich verbluten – und kann auch tödlich sein für den Rotmilan, der die verendeten Tiere frisst. So sei der Greifvogel zwischen 1995 und 2005 aus vielen Departementen komplett verschwunden, wohl wegen dieses einen Gifts.

In Spanien habe der Vogel lange davon profitiert, dass man an vielen Orten Schlacht- abfälle unter freiem Himmel deponierte. Wegen einer EU-Bestimmung sei das verboten worden – der Rotmilan verlor innert weniger Jahre sehr viele Futterplätze, sein Bestand nahm in der Folge stark ab. In Deutschland seien die Bestände teilweise stabil, teilweise rückläufig. Im Osten des Landes habe dem Vogel die Intensivierung der Landwirtschaft nach dem Fall der Mauer 1989 zu schaffen gemacht. In der Folge seien einerseits Grünflächen verloren gegangen, andererseits seien viele Felder nun mehrmals pro Jahr gepflügt worden. Beides habe den Bestand von Feldhamstern, Mäusen und anderen Kleinsäugern rapide abnehmen lassen – in diesem Gebiet die Hauptnahrungsquelle des Rotmilans. Und die wenigen Beutetiere, die verblieben, sind für den Greifvogel oft unerreichbar, da in hohen Getreide- oder Maisfeldern verborgen. So erfuhr der Vogel innert weniger Jahre eine markante Bestandsabnahme. «Wir dürfen uns also nie ganz auf der sicheren Seite wähnen: Eine einzige Veränderung kann für den Rotmilan ein massives Problem darstellen.»

Winterfütterung hilft vielen Milanen
Warum es dem Greifvogel in der Schweiz viel besser geht als in den meisten anderen Ländern, ist laut Aebischer noch nicht restlos geklärt, ein entsprechendes Forschungsprojekt sei bei der Vogelwarte Sempach erst in Vorbereitung. Ein Grund sei sicher, dass in der Schweiz nicht so viele Tiere gewildert würden wie in Frankreich und Spanien. Und die Überlebensrate der Schweizer Vögel sei wohl auch deshalb grösser, weil viele hier überwintern können – selbst in harten Wintern, in denen sie natürlicherweise kaum Futter finden. Der Grund: «Es gibt in der Schweiz viele Privatpersonen, die Rotmilane im Winter füttern. Manche mit Küchenresten, viele besorgen sogar eigens Schlachtabfälle. Es sind Hunderte von Vögeln, die so durch den Winter kommen.»

Telemetriestudien deuten darauf hin, dass ein Grossteil der hier geschlüpften Jungvögel in ihrem ersten Winter noch in den Süden ziehen – oft nach Südfrankreich oder Spanien. Dass sie aber bereits vom zweiten oder dritten Winter an hierbleiben, sofern sie Futter bekommen. Anders als bei anderen Wildtieren hält Aebischer das Füttern im Fall der Milane nicht für problematisch: «Sie verlieren dadurch nicht ihren Instinkt», sagt er. «Wenn es mitten im Winter schneit und nirgends Futter in Reichweite ist, fliegen sie wieder in den Süden.» Dass sie dadurch die Scheu vor dem Menschen ein Stück weit verlören, sei schon möglich. So sind ihm zwei Fälle bekannt, in denen Rotmilane sich ein Stück Fleisch vom Grill griffen und damit davonflogen. Von aggressivem Verhalten gegenüber Menschen habe er aber noch nie gehört.