Es kommt nicht alle Tage vor, dass sich ein Tierbuch wie ein Science-Fiction-Roman liest, Gruselfaktor und Faszination inklusive. Doch die «Aliens der Ozeane», die Autor und Hochschuldozent Heinz Krimmer in seinem gleichnamigen Werk vorstellt, vereinen all diese Prädikate. Er hat eine uralte Intelligenz aus den Tiefen der Meere aufgespürt, wie er schreibt.

Um sie zu verstehen, muss man das Leben der Kopffüsser allgemein verstehen. Eine ihrer Unterklassen sind die Tintenfische, die Krimmer erforscht hat. «Sie haben drei Herzen und blaues Blut. Sie schwimmen rückwärts und koten sich auf den Kopf», schreibt er einleitend über sie. Zudem verlaufe die Speiseröhre durch eines ihrer neun Gehirne. Nichts an einem Kopffüsser erscheint vertraut. Der Autor schlägt den Bogen zur Entwicklungspsychologie des Menschen, um zu zeigen wie tief verbunden er doch mit diesen Wesen ist.   

Auch Kinder zeichnen Kopffüsser
Diese Verbindung ist stärker als man denkt. Laut Krimmer wird die Fähigkeit, Kopffüssler zu zeichnen, bereits bei den obligatorischen Vorsorgeuntersuchungen abgefragt. Dazu wird Psychoanalytiker Hartmut Kraft mit den Worten zitiert: «Die besondere Bedeutung dieses Bildthemas liegt darin begründet, dass Kinder im Anschluss an ihre Kritzelphase im Alter von zweieinhalb bis vier Jahren ihre Menschendarstellungen meist mit dem Kopffüssler beginnen.»

Das Thema beschäftigte die Menschheit aber schon in der Antike. Damals glaubte man, dass diese Wesen gefährlich seien und am Rande der Welt lebten. Die Angst mag auf dem Aussehen der Tintenfische wurzeln, und auf Beobachtungen dieser faszinierenden Lebewesen.

Gleich im ersten Kapitel des Buches bringt Krimmer Licht in die Dunkelheit in den Tiefen der Meere: «Während Oktopoden und Sepien überwiegend Einzelgänger sind, leben Kalmare oft in Schwärmen», schreibt er als Unterscheidungshilfe zu den verschiedenen Tintenfisch-Gruppen. Danach geht er auf deren intelligentes Verhalten ein.

Faszinierend ist die Bildstrecke eines Kokosnuss-Oktopus (Amphioctopus marginatus), der als Baumeister unter den Oktopoden gilt. Gezeigt wird im Buch, wie er eine Kokosnussschale über den Meeresboden bugsiert, um sich aus ihr einen Unterschlupf zu bauen. Verblüffend sind auch die Abwehr- und Tarnstrategien der Tiere. Kopffüsser können bei Gefahr Tinte absondern, um ihren Feinden die Sicht zu vernebeln und sich blitzschnell abzusetzen. Genauso beherrschen sie die Gabe, sich eindrucksvoll zu vergrössern. Eine Drohgebärde, die Eindruck macht, und die unter dem Titel «Bluff» auf einer Bilddoppelseite gezeigt wird.

Erstaunliche Tarnung
Was die Tiere mit ihrer Haut alles anstellen können, ist verblüffend. Dreidimensionale Tarnung ist für sie kein Problem. Mitunter färben sie ihre Oberfläche analog der Gesteine in der Umgebung. Damit werden sie bei Gefahr beinahe unsichtbar. Gleichzeitig können sie ihre Farben ändern. Wobei das Farbenspiel ihrer Haut laut Krimmer alles bisher Bekannte übertrifft. Der Farb- und Musterwechsel der Reptilien, etwa des Chamäleons, wirke wie Zeitlupe gegenüber dem Zeitraffertempo der Kopffüsser.

So sieht es aus, wenn Tintenfische die Farbe ändern – hier bei einem Paarungsritual (Video: BBC):

[EXT 1]

Ein gewisser Gruselfaktor ist dabei, wenn Krimmer über die Ernährung der Kopffüsser schreibt. Sie haben einen schnellen Stoffwechsel und brauchen viel Nahrung. Deren Aufnahme ist in der Regel mit einem unschönen Tod der Beutetiere verbunden.

Zuerst bohren sich harte Zahnringe oder Haken aus Chitin in das Fleisch der Opfer. Diese Werkzeuge sind an jedem Saugnapf befestigt. Wehrt sich die Beute, wird sie immer näher an den harten Schnabel heran gezogen, der laut Krimmer fürchterlich aussieht. «Wenn er sich öffnet, wird der Blick frei auf eine Zunge, die mit kleinen scharfen Zähnen besetzt ist und Raspelzunge genannt wird», ist im Buch zu lesen. Sie ist eine Art Pürierwerkzeug, die selbst grössere Fische – oft bei Bewusstsein – in eine matschige und für den Kopffüsser geniessbare Substanz verwandelt.

Krimmer geht weiter auf das ungewöhnliche Sexleben der getrenntgeschlechtlichen Kopffüssler ein. Er berichtet von Massenpaarungen im Meer vor der Kalifornischen Küste, aber auch davon, dass der Sex für die männlichen Tiere tödlich sein kann.

Angereichert von zahlreichen Bildern und historischen Erzählungen sowie einem Kapitel, das sich mit Mythos und Wahrheit rund um die Tintenfische befasst, ist mit «Aliens der Ozeane» ein umfassendes Werk Werk entstanden. Es vermittelt nicht nur Wissen, sondern liest sich auch spannend. Die teils atemberaubenden Unterwasserfotos sorgen gleichzeitig dafür, dass man es immer wieder durchblättern will – und dass einem die «Aliens der Ozeane» in Erinnerung bleiben.

<drupal-entity data-embed-button="media" data-entity-embed-display="view_mode:media.teaser_big" data-entity-embed-display-settings="[]" data-entity-type="media" data-entity-uuid="edc95922-ba6a-46e6-9b96-2b056251a2f8" data-langcode="de"></drupal-entity>

Neun Gehirne und frei Herzen – die bizarre Welt der Tintenfische
1. Auflage 2019 
Gebunden, 208 Seiten 
Verlag: Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co KG, Stuttgart 
ISBN: 978-3-440-16664-2