Spinnenseide besteht aus sehr stabilen und gleichzeitig extrem dehnbaren Proteinfasern – eine Kombination, die es in anderen Polymerfasern nicht gibt. Spinnenseide kann dreimal mehr Energie aufnehmen, bis sie reisst, als Kevlar, eine der reissfestesten synthetischen Fasern. Zudem ist die Seide 30-mal stärker als Stahl. Anders als Seide von Raupen kann Spinnenseide nicht auf Spinnenfarmen produziert werden. Denn die Tiere sind meist Kannibalen und produzieren zudem in Gefangenschaft eine Seide von minderer Qualität. Daher wurden Methoden zur biotechnologischen Herstellung von Spinnenseiden getestet. 

Dem Biochemiker Thomas Scheibel von der deutschen Universität Bayreuth gelang 2014 erstmals die künstliche Herstellung von Seidenproteinen. Zunächst veränderte er E.-coli-Bakterien gentechnisch mit Genen der europäischen Gartenkreuzspinne. Die veränderten Bakterien produzierten im Labor aus Rohstoffen wie Rüben und Zuckerrohr Proteine von Spinnenseide. Der zweite entscheidende Schritt: Scheibel und seinem Team gelang es, den komplizierten Mechanismus nachzuahmen, mit dem Spinnen die Seidenstränge zu Fasern verarbeiten. Das alleine dauerte rund zehn Jahre lang.

Nun können künstlich Seidenfäden produziert und in Vliese eingewoben werden. Das neue widerstandsstarke Material wird in Kosmetika, in der Chirurgie, für Arzneimittelbeschichtungen, kugelsichere Westen und in der Computerelektronik genutzt.

Samuel Zschokke von der Universität Basel kennt sich mit dem Bau von Spinnennetzen bestens aus und erklärt, wie die aus seiner Sicht genialen Netze überhaupt entstehen.

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Herr Zschokke, was fasziniert Sie an Spinnennetzen?
Ein kleines Tier, die Spinne, baut eine grosse regelmässige Struktur, das Netz, die sehr ausgeklügelt ist. Das ist äusserst faszinierend. Das Netz ist gleichzeitig stark und flexibel. Dass ein Material diese zwei Eigenschaften gleichzeitig hat, ist aussergewöhnlich und umso spannender.

Aus was besteht ein Spinnennetz?
Das Tier produziert Spinnenseide, aus der das ganze Netz gebaut wird. Die Seide besteht aus Proteinen, welche die Spinnen in Drüsen in ihrem Hinterleib aus Aminosäuren herstellt.

Gibt es verschiedene Seidenarten?
Ja. Wir kennen sieben verschieden Seiden, welche die Spinne herstellt.

Welche?
Sie produziert beispielsweise Weg- und Rahmenfäden, die extrem reissfest sind. Zudem stellt sie auch Beutefangfäden her, die sehr klebrig sind. Spinnen besitzen im Hinterleib für jede Seidenart eine eigene Spinndrüse.

Und wie entsteht der Faden konkret?
Die Seide wird vom Hinterteil her durch eine Düse nach aussen gepresst. Dabei wird das Material gehärtet. Die Bestandteile des Proteins für die Seide nimmt die Spinne mit ihrer Nahrung auf. Ihre Nahrung sind beispielsweise Fliegen oder Mücken, die sie nach dem Einwickeln in Seide beisst und aussaugt.

Wie dick ist ein Seidenfaden?
Die Fäden sind sehr dünn. Sie sind nur etwa ein Tausendstelmillimeter dick.

Wie erstellt die Spinne ihr Netz?
Zunächst lässt sie einen Faden in die Luft und schaut, ob sich dieser irgendwo verhakt. Der erste Faden des Netzes wird an zwei Punkten festgeklebt. In der Mitte dieses Fadens lässt sich die Kreuzspinne an einem neuen Faden herunter. Eine Y-Form entsteht. Nun baut die Spinne Rahmenfäden und zieht Speichenfäden zur Mitte. In der Netzmitte baut sie aus klebrigen Fäden eine Fangspirale. Hier bleiben die Fliegen oder Mücken hängen, die ins Netz fliegen.

Wie lange bleibt eigentlich so ein Netz
bestehen?

Die Gartenkreuzspinne baut ihr Netz jeden Tag neu. Übrigens: In der Schweiz gibt es rund 1000 Spinnenarten. Aber nur ein Drittel davon baut Netze. Die anderen jagen ihre Beute oder fangen sie mit einem gezielten Sprung.

So spinnt die Spinne ihr Netz

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Zum Thema Bionik: Was war bisher die Schwierigkeit, Spinnenseide künstlich herzustellen?
Der Faden besteht aus einem Kern und verschiedenen Schichten. Er ist nicht durchgängig gleich, sondern weist unterschiedliche Proteinstrukturen auf. Diese komplexe Struktur herzustellen war bisher die Schwierigkeit. Schon in den 1990er-Jahren, als ich meine Doktorarbeit geschrieben habe, hiess es, dass man kurz davor sei, Spinnenseide herstellen zu können. Nun scheint es an der Universität Bayreuth gelungen zu sein. Aber ich muss darauf hinweisen, dass ich nicht Kenner der Seidenspinne bin, sondern vor allem den Netzbau untersuche.

Hat der Aufbau des Spinnennetzes auch schon das Interesse der Industrie geweckt?
Ich wurde dazu auch schon von Ingenieuren befragt, die auf der Suche nach einer stabilen und gleichzeitig leichten Struktur für den Dachbau sind. In den 1970er-Jahren, als das Dach für das Münchner Olympiastadion gebaut wurde, waren auch Fachleute involviert, die sich mit Spinnennetz auskennen.

Also kann die Industrie von den Spinnennetzen profitieren?
Man kann gewisse Erkenntnisse daraus ziehen. Aber der Aufbau eines Spinnennetzes lässt sich nicht einfach 1:1 für menschliche Belange umsetzen. Denn das Netz ist beispielsweise auch so gebaut, dass die Spinne kleinere Schäden durchaus in Kauf nimmt. Das wäre für uns ja gerade nicht gefragt.

Wie sieht es grundsätzlich bei den Spinnen aus: Sind die Tiere gefährdet?
Eine aktuelle Untersuchung hat gezeigt, dass die Anzahl der Gartenkreuzspinnen in der Schweiz in den letzen 40 Jahren drastisch zurückgegangen ist.

Eine kleine Caerostris darwini spinnt ein riesiges Netz an bis zu 25 Meter langen Fäden

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Warum?
Diese Spinnen ernähren sich vor allem von fliegenden Insekten, deren Anzahl massiv zurückgeht. Das hat unter anderem damit zu tun, dass die in der Landwirtschaft eingesetzten Pestizide viele Insekten vernichten.

Sind Sie eigentlich ständig in feuchten Kellern oder dunklen Gebäuden unterwegs, um Spinnennetze zu finden?
Ich bin vor allem in der Natur unterwegs. Ich fange auch ab und zu Spinnen. Diese leben dann bei mir zu Hause in einer Box, die ich ins Bücherregal stelle. In dieser Box bauen die Spinnen ihre Netze, die ich studiere. Ich habe auch schon tropische Spinnen gehalten, um deren Netzbau zu studieren.

An welchem Projekt arbeiten Sie derzeit?
Die amerikanische Raumfahrtbehörde NASA hat 2011 den Bau von Spinnennetzen an Bord der Internationalen Weltraumstation ISS untersucht. Goldene Seidenspinnen bauten dort ohne den Einfluss der Schwerkraft ihre Netze.  Die Spinnen haben dort rund 50 Netze gebaut. Deren Struktur untersuche ich nun genauer.

Und was war das Resultat?<

Auf der Erde ist es so, dass ein Spinnennetz nicht gleichmässig gebaut ist. Der Teil unterhalb des Mittelpunkts, der Nabe, ist grösser als der Teil oberhalb. Grund: Spinnen können schneller nach unten laufen und können deshalb eine Beute, die sich im unteren Teil des Netzes verfangen hat, auch dann fangen, wenn sie weiter weg ist vom Mittelpunkt. Im Weltall war es anders.

Nämlich?
Die Netze waren gleichmässig rund gebaut. Das heisst: Die Schwerkraft hat auf der Erde Einfluss auf den Netzbau.

Zum Abschluss. Viele ekeln sich vor Spinnen. Und Sie?
Ich habe keine Probleme mit diesen Tieren. Es ist wichtig zu wissen, dass in der Schweiz keine Spinne für Menschen wirklich gefährlich ist. Ganz wenige Arten können überhaupt beissen, was dann aber höchstens etwa so schlimm ist wie ein Wespenstich.