Vorsicht, du musst sie am ganzen Körper oder an beiden Beinen gleichzeitig festhalten», sagt Christian Roesti, nachdem ich die erste Heuschrecke eingefangen habe. Die Erklärung liefert der Zoologe gleich nach: «Hältst du sie nur an einem Bein, wirft sie dieses ab und hüpft auf dem anderen davon. So kann sie einem Vogel entkommen, der nur eines ihrer Sprungbeine erwischt hat.» Irgendwie schaffe ich es, das Tier aus dem Innern meiner rechten Hand in die Plastikdose zu verfrachten und diese wieder mit dem Stück Schaumstoff zu verschliessen, ohne dass die Heuschrecke raushüpft, die Roesti bereits darin eingeschlossen hat – laut dem Zoologen das männliche Pendant zum Weibchen, das ich eben gefangen habe.

Um welche Art es sich handelt, verrät er aber noch nicht. Schliesslich wollen wir heute testen, ob auch jemand ohne jegliche Vorkenntnisse Heuschrecken bestimmen kann; mithilfe der App Orthoptera, die Christian Roesti auf Initiative von Umweltnaturwissenschaftler Matthias Riesen von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften gemeinsam mit diesem und dem Umweltingenieur Florin Rutschmann entwickelt hat.

Das Heuschrecken-Ohr steckt am Bein
Eigentlich ist heute nicht ideales Wetter, um Heuschrecken nachzustellen: Viele Arten beginnen erst zu singen, wenn es richtig heiss ist, doch die Sonne hat sich an diesem August-Nachmittag noch nicht blicken lassen, und nach einer verregneten Woche ist es relativ kühl. Es heisst also Augen offen halten, als wir das Schutzgebiet «Hoger» betreten: eine Trockenwiese in Bremgarten bei Bern, ein rund dreihundert Meter langer Streifen Grün an einem steilen Südhang, rundherum Wohnhäuser, Wald, Ackerland, ein Schulhausplatz. Diese Wiese ist der grösste Trockenstandort im bernischen Mittelland. Erst vor Kurzem wurde sie gemäht, und man würde nicht vermuten, dass hier an die 70 verschiedene Pflanzenarten wachsen. Laut Roesti leben 15 Heuschrecken-Arten in der Wiese selbst und an den Hecken an ihrem Rand. Und tatsächlich hat der Zoologe bereits nach kurzem Suchen drei Arten aufgespürt, die nun in Plastikdosen auf ihre Bestimmung warten.

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 Ein Heidegrashüpfer. Bild: Martina Huber  

Wir setzen uns auf den Weg unterhalb der Wiese, ich packe das iPad aus und öffne die App. Alle 119 Heuschrecken-Arten, die in der Schweiz und Deutschland heimisch sind, sollen sich damit bestimmen lassen. Ob das funktioniert? Bereits die Angabe von «Mittelland West» und der Höhenstufe reduziert die insgesamt 119 Arten auf 61. Auch das nächste Merkmal ist schnell erfasst: Die Fühler der beiden Tiere im ersten Behälter sind länger als ihr Körper, also definitiv «lang», es verbleiben 25 Arten. «Das verrät uns schon einiges», sagt Roesti und führt aus: Das Pärchen gehört zur Gruppe der Langfühlerschrecken, die etwa die Hälfte der heimischen Heuschrecken umfasst, auch die Grillen.

Viele Langfühlerschrecken sind räuberische Allesfresser. Ihr Ohr – in der Fachsprache Tympanalorgan genannt – befindet sich am vordersten Bein, unterhalb des Knies. Weibliche Langfühlerschrecken sind leicht von den Männchen zu unterscheiden wegen der langen Legeröhre an ihrem Hinterleib, die sie zur Eiablage in den Boden bohren, oder je nach Art auch in Baumrinde, Moospolster oder Pflanzenblätter. Und die männlichen Tiere singen, indem sie die Flügel aneinanderreiben – mit Ausnahme der Gemeinen Eichenschrecke, die mit einem Hinterbein auf Blätter oder Äste trommelt, um Weibchen zur Paarung anzulocken.

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 Die Westliche Beissschrecke. Bild: Martina Huber  

Farbe ist unwichtig
Das Männchen in meiner Dose denkt allerdings nicht ans Singen. Ich muss es also bestimmen, dann kann ich mir den Gesang zumindest als Ton­aufnahme auf der App anhören. Ich vermesse es mit Blicken, bevor ich die nächsten Merkmale anwähle: 11 bis 25 Millimeter gross, Flügel überragen das Hinterknie, bei der Grundfarbe trifft es «grau-braun» wohl am besten. Nur eine Art erfüllt all diese Kriterien: «Westliche Beissschrecke», sagt die App. Tatsächlich passen Bilder und Beschreibung zum Pärchen in meiner Dose. Die Westliche Beissschrecke liebt Hitze und Trockenheit, erfahre ich im Infotext. Sie ist weit verbreitet und relativ häufig, aber dennoch potenziell gefährdet, weil Wiesen zunehmend intensiv genutzt oder überbaut werden. Ausgewachsene Tiere kann man bis Oktober beobachten. Christian Roesti bestätigt: Die Bestimmung ist richtig.

Vielleicht war es ein Glückstreffer, ich nehme mir den zweiten Plastikbehälter vor. Darin sitzt eine weibliche Langfühlerschrecke, gleich gross wie die bereits Bestimmte, und auch sonst sieht sie für mich praktisch gleich aus. «Hat die gleiche Farbe», sage ich. «Die Farbe ist nicht wichtig. Schau dir die Form an», entgegnet Roesti. Nach einem Blick auf den Kriterienkatalog der App bemerke ich den entscheidenden Unterschied: Anders als die Westliche Beissschrecke hat diese hier nicht Flügel, die deutlich länger sind als der Körper. Gar keine Flügel hat sie. Peinlich, habe ich das übersehen. Ich passe dieses Merkmal in der App an und bin bei zwei Arten. Als ich beim Lebensraum zusätzlich «Krautsaum, Hochstaudenflur und Gebüsch» angebe, bleibt eine Art übrig: die Gewöhnliche Strauchschrecke, von der man ausgewachsene Tiere bis November findet. «Sie ist eine der häufigsten einheimischen Arten», stellt Roesti fest.

Manche Unterschiede sind minim
Heuschrecken bestimmen mit der App ist also ein Kinderspiel, Spezialisten sind überflüssig? Dass dem nicht so ist, zeigt mir das Heuschrecken-Pärchen im dritten und letzten Behälter. Diesmal sind es Kurzfühlerschrecken: Deren Hörorgan sitzt laut Roesti seitlich am Hinterleib, die männlichen Tiere singen, indem sie die Sprungbeine über ihre Flügel streichen, und die meisten ernähren sich vegetarisch. Nachdem ich alle für mich einfach erkennbaren Merkmale eingegeben habe, gibt die App noch immer eine Auswahl von sechs Arten an.

Ich wähle den Nachtigall-Grashüpfer an. Meine Hüpfer sind braun, die meisten abgebildeten sind eher grün, sonst sehen sie für mich gleich aus. «Die Farbe ist beim Bestimmen das schlechteste Merkmal», sagt Roesti einmal mehr – ein Nachtigall-Grashüpfer etwa könne braun oder grau oder grün oder gar rötlich sein. Es ist die leicht andere Flügelform, die ihm verrät, dass wir nicht Nachtigall-, sondern Braune Grashüpfer vor uns haben. Anhand der Tuschezeichnungen in der App zeigt er mir den feinen Unterschied auf, den ich ohne ausdrücklichen Hinweis niemals bemerkt hätte. «Die beiden sind optisch sehr schwer zu unterscheiden, doch sie singen komplett anders.» 

Als wir uns die Gesänge nacheinander in der App anhören, stimmt plötzlich eine weitere Stimme mit ein: Die Westliche Beissschrecke aus Behälter eins hat sich nun doch noch entschlossen, zu singen. Zeit, sie wieder in die Freiheit zu entlassen und noch weitere Arten aufzuspüren.

Die App Orthoptera zum Bestimmen der 119 Heuschrecken-Arten der Schweiz und Deutschlands kostet 15 Franken. Sie ist iOS (iPhone und iPad) sowie neu auch für Android verfügbar.
Hier geht es zum Download.