Ende September fand ein Bauer in Schwellbrunn AR einen toten Luchs. Das geschützte Tier war laut der zuständigen Behörde aufgrund einer Schussverletzung am hinteren rechten Lauf auf «langsame und qualvolle Weise verendet». Es war nicht der erste Fall von Wilderei in diesem Jahr, der Schlagzeilen machte. Mitte März etwa fanden Waldarbeiter in Sils im Domleschg GR einen von Schrot durchsiebten Jungwolf. Nur Tage zuvor war am Rhonebord in Raron VS ebenfalls ein Wolfskadaver aufgetaucht. Und Mitte Februar entdeckte die Bündner Wildhut in der Nähe von Fanas die Eingeweide eines kapitalen Kronenhirschs. Er wurde während der Schonzeit gewildert.

Handelt es sich um Einzelfälle oder ist Wilderei in der Schweiz ein grösseres Problem? Dazu wurden Behörden in sechs Kantonen befragt: Graubünden, Bern, Aargau, Zürich, Wallis und Genf. Die ersten fünf sind (in dieser Reihenfolge) gemäss den Zahlen, die in der eidgenössischen Jagdstatistik zu finden sind, die Kantone mit den meisten erlegten Tieren im Jahr 2015. Auf sie entfällt etwa die Hälfte der schweizweit knapp 150 000 Abschüsse. Darin enthalten sind laut Thomas Pachlatko, Co-Leiter der Fachstelle Wildtier Schweiz, rund 7800 Spezialabschüsse; diese umfassen Regulationsabschüsse, Abschüsse von verletzten oder kranken Wildtieren und solchen, die Schäden verursachen, aber auch gewilderte Tiere. Ein erster Anhaltspunkt also. 

Bleibt noch der Sonderfall Genf. Dort gilt seit 1974 ein Milizjagdverbot. Das heisst, allein die staatlichen Wildhüter dürfen Tiere schiessen. Ob das die Wilderei begünstigt?

Es gibt keine Statistik
Man müsste meinen, dass die kantonalen Jagdinspektoren Buch führen über Fälle von Wilderei und darüber, welche Tierarten betroffen sind. Dem scheint nicht so. «Wir führen dazu keine Statistik», sagt etwa Georg Brosi, Jagdinspektor des Kantons Graubünden. Zahlen oder Schätzungen habe er keine. Dies stimmt aber nur bedingt. Denn Mitte Februar sprach Brosi gegenüber der «Südostschweiz» immerhin von zehn bis zwanzig Fällen pro Jahr. Gezählt wird also doch, aber vielleicht nicht aufgeschrieben. Damit konfrontiert, bestätigte Brosi nur seine erste Aussage: «Es gibt keine Statistik.» Das überrascht, soll aber nicht heissen, dass der Bündner Jagdinspektor das Ganze auf die leichte Schulter nimmt. Es gebe durchaus Einsätze und Aktionen gegen Wilderer, sagt Brosi. Und: «Jeder Frevelfall ist zu verurteilen.»

Das sagt das Gesetz

Im Bundesgesetz über die Jagd und den Schutz wild lebender Säugetiere und Vögel (JSG), kurz Jagdgesetz, kommt der Begriff «Wilderei» nicht vor. Stattdessen werden in den Artikeln 17 (Vergehen) und 18 (Übertretungen) die strafbaren Handlungen und das mögliche Strafmass beschrieben.

Wer zum Beispiel vorsätzlich und ohne Berechtigung jagdbare und geschützte Arten jagt, tötet, gefangen hält oder in irgendeiner Weise damit Handel betreibt, Schutzgebiete ohne ausreichenden Grund mit einer Schusswaffe betritt, Tiere aussetzt, Füchse, Dachse und Murmeltiere ausräuchert, begast, ausschwemmt oder anbohrt oder für die Jagd verbotene Hilfsmittel verwendet, der wird laut Artikel 17 mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft. Und mit Busse bis zu 20 000 Franken wird laut Artikel 18 bestraft, wer unter anderem vorsätzlich und ohne Berechtigung Hunde wildern lässt, Massnahmen zum Schutze der Tiere vor Störung missachtet (zum Beispiel Schonzeiten) oder Eier oder Jungvögel jagdbarer Arten ausnimmt.

Gemäss Artikel 21 JSG ist die Verfolgung und Beurteilung von Widerhandlungen Sache der Kantone. Diese wiederum verfügen zusätzlich über eigene kantonale Jagdgesetze und -verordnungen.

Aus dem Kanton Bern tönt es ähnlich. Jagdinspektor Niklaus Blatter kann nur bestätigen, dass Wilderei immer wieder einmal vorkommt. Als spezielles Beispiel nennt er Frevler, die Singvögel mit Leimfallen fangen, um sie danach zu verkaufen. Konkrete Zahlen hat aber auch er nicht. Dafür unternimmt der Kanton einiges im Kampf gegen die Wilderei. «Wir arbeiten mit den Jagdvereinen zusammen und sensibilisieren Jäger in Ausbildung für das Problem», sagt Blatter. Daneben engagiere sich die Behörde fokussiert für geschützte Arten, etwa mit der Begleitgruppe Biber oder indem Standorte von Adler­horsten geheim gehalten werden. «Trotzdem bleibt es für uns schwierig», gibt Blatter zu, «denn die zu kontrollierenden Gebiete sind gross und der Wilderer von heute ist mit Nachtsichtgerät und Schalldämpfer unterwegs.» 

Der Bund weiss noch weniger
Im Kanton Aargau ist man besser aufgestellt. «Dank unserem Reviersystem ist grundsätzlich eine flächendeckende Überwachung gewährleistet», sagt Erwin Osterwalder, Fachspezialist Jagd. «Jagdaufseher und Pächter sind das ganze Jahr über in ihren Jagdrevieren unterwegs und merken relativ schnell, wenn etwas nicht stimmt.» Entsprechend habe Wilderei im Kanton Aargau grundsätzlich keine Bedeutung. Zwar habe man diesen Sommer im Fricktal mehrere Rehe und ein Wildschwein gefunden, die mit Vollmantelgeschossen erlegt und liegen gelassen wurden, «das sind aber die ersten Wildereivorfälle nach vielen Jahren». 

Wie es in Zürich, im Wallis und in Genf bezüglich der Wilderei aussieht, bleibt im Dunkeln. Von den zuständigen Jagdinspektoraten gab es zum Thema keine Stellungnahme.

Bleibt noch die oberste Schweizer Jagdbehörde beim Bundesamt für Umwelt. Auf die Frage, wie der Bund die Situation einschätzt, welche Tierarten am stärksten betroffen sind und welche Präventiv- und Bekämpfungsmassnahmen es gibt, antwortet Nicolas Bourquin von der Sektion Wildtiere und Waldbiodiversität kurz und bündig: «Wir haben leider keine Ahnung.» Wenn schon die Jagdbehörden wenig bis gar keine Ahnung haben (oder nicht mehr kommunizieren wollen), dann vielleicht die zuständigen Strafverfolgungsbehörden? Schliesslich gibt es Jagdgesetze, allen voran das Bundesgesetz über die Jagd und den Schutz wild lebender Säugetiere und Vögel mit seinen Artikeln 17 und 18 (siehe Box unten). Und wer dagegen verstösst und erwischt respektive verurteilt wird, ist polizeilich registriert. Allerdings melden auch die Staatsanwaltschaften der Kantone Graubünden, Bern, Zürich und Wallis unisono zurück, dass sie dazu keine Statistik führen. 

Der Bündner Staatsanwalt Claudio Riedi erklärt diesen Umstand damit, dass es ungemein schwierig und zeitaufwendig sei, solche Zahlen herauszusuchen – und dann seien sie erst noch wenig aussagekräftig: «Wenn jemand zum Beispiel einen Diebstahl begangen und ein Tier gewildert hat, dann wird er vor Gericht für beide Vergehen gleichzeitig belangt. Es gibt also nur ein Verfahren mit einer Strafe.» Es könne also sein, dass ein Wilderer in der Statistik unter einem anderen Vergehen aufgeführt sei. «Und was, wenn der Hund eines Spaziergängers ein Tier reisst, ist das auch schon Wilderei?», fragt Riedi gleich hinterher.

Im Gegensatz zu den oben Genannten hat sich die Staatsanwaltschaft Aargau trotzdem die Mühe gemacht, Zahlen herauszusuchen. So vermeldet Mediensprecherin Fiona Strebel für die Jahre 2005 bis 2015 insgesamt 31 Verurteilungen wegen Vergehen (12 davon wegen Fahrlässigkeit) und 41 Verurteilungen wegen Übertretungen gemäss dem Bundesgesetz über die Jagd. 

Auch Genf, der einzige Schweizer Kanton mit einem Jagdverbot, gibt Auskunft. Sprecher Henri Della Casa meldet zwei Verurteilungen in den letzten zehn Jahren wegen Vergehen. Die Schuldigen wurden einmal mit Geldstrafe auf Bewährung und einmal mit Busse bestraft.

Viel mehr ist nicht herauszufinden. Auch die polizeilichen Kriminalstatistiken der sechs Kantone führen punkto Wilderei nichts auf. Einzig der Kanton Bern zählt für 2015 27 Straftaten, allesamt aufgeklärt, gegen das kantonale Gesetz über Jagd und Wildtierschutz und 0 Straftaten gegen die kantonale Jagdverordnung. Immerhin.

Kein Drama vs. hohe Dunkelziffer
Dass es auch anders geht, beweist Heinrich Haller in seinem kürzlich erschienenen Buch: «Wilderei im rätischen Dreiländereck» (siehe Literaturtipp am Ende des Artikels). Darin berichtet der Direktor des Schweizerischen Nationalparks unter anderem von mehreren Hundert belegten Wildereifällen aus dem Nationalpark und dem übrigen Engadin, dem Münstertal und dem angrenzenden Ausland seit 1910. 

Im Nationalpark etwa wurden seit den Anfängen 1910 bis zum Jubiläum 2014 77 Wildererbeuten festgestellt: 34 Gämsen, 28 Rothirsche, 9 Alpensteinböcke, 3 Rehe und 3 Steinadler. Um die Fälle zusammenzutragen, hat Haller grossen Aufwand betrieben: «Ich habe während Jahren Archive durchforstet, die Tagebücher aller Nationalparkwächter gelesen, mich mit den Kollegen aus unserer länderübergreifenden Arbeitsgruppe Wilderei ausgetauscht und natürlich meine eigenen Erfahrungen im Feld gemacht», sagt er zu seiner Arbeit.

Zu den offiziell nicht vorhandenen Statistiken der Jagdinspektorate möchte Haller keine Stellung nehmen, betont aber, dass man das Problem nicht überdramatisieren dürfe. Die ursprünglichen Motive der Wilderei – Fleischbeschaffung, Trophäenjagd und Rebellentum – seien kaum mehr vorhanden, da in der Schweiz ein hoher Lebensstandard herrsche und eigentlich jeder die Möglichkeit habe, eine Jagdberechtigung zu erlangen. «Das grösste Problem», sagt Haller, «ist das Wildern von Grossraubtieren, besonders von Luchsen, die bei gewissen Leuten auf der Abschussliste stehen.»

Das weiss auch Pro Natura. Die Naturschutzorganisation hat bereits 2001 in ihrer Publikation «Wer tötet den Luchs?» eine chronologische Liste mit 46 illegal getöteten Luchsen von 1974 bis 2000 in der Schweiz und im benachbarten Ausland veröffentlicht. «Leider hat sich die Situation aus unserer Sicht nicht verbessert», sagt Sprecher Roland Schuler. «Es ist einfach ruhiger geworden um den Luchs, weil es viel Lärm um den Wolf gibt.» Zudem liege über der Wilderei oft der Mantel des Schweigens. Für Behörden sei es daher schwierig, Wilderer zu fassen. «Es muss von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden», sagt Schuler.

Hätte Pro Natura ihre Luchsliste seit 2001 weitergeführt, wäre sie heute mit Sicherheit viel länger als damals. Und ganz vorne stünde der Fall des gewilderten Luchses in Schwellbrunn.

Literaturtipp: Heinrich Haller: «Wilderei im rätischen Drei- ländereck – Grenzüberschreitende Recherchen mit einer Spurensuche bis nach Tibet», gebunden, 304 Seiten (mit 98 Abbildungen und 9 Tabellen), Haupt Verlag, ISBN 978-3-258-07965-3, ca. Fr. 39.–