Der Schneehase ist ein Heimlichtuer und ein Schlaumeier: Zwar kann er seine Spuren nicht verbergen an diesem strahlenden Wintermorgen in einem Oberwalliser Skigebiet. Im Neuschnee, der über Nacht gefallen ist, sind seine Fährten sogar vom Sessellift aus mühelos zu erkennen. Sie führen zwischen ein paar Felsblöcken hindurch – und enden dann urplötzlich, scheinbar mitten im offenen Feld. Rings um das letzte Trittsiegel ist nur frischer Schnee zu sehen, erst etwa eineinhalb Meter weiter folgt das nächste Felsband. 

«Das ist typisch für den Schneehasen», sagt der Wildbiologe Maik Rehnus. «Mit einem bis zu zwei Meter weiten Sprung erreicht er eine Mulde oder einen Felsspalt und führt so seine Feinde in die Irre.» Rehnus hat schon einige solche Täuschungsmanöver erlebt, denn er ist dem Lepus timidus, dem «scheuen Hasen», schon seit acht Jahren auf der Spur. Zwei Diplomarbeiten hat er über das Tier verfasst und kürzlich gar ein Buch geschrieben mit dem Titel: «Der Schneehase in den Alpen». 

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 Maik Rehnus:  «Der Schneehase in den Alpen», kartoniert,  93 Seiten,
 Haupt-Verlag,  ISBN: 978-3-258-07846-5,  ca. Fr. 36.–

Mit «Schneeschuhen» dem Fuchs davon
Auf den Hasen gekommen ist Rehnus dank eines Praktikums im Schweizerischen Nationalpark. «Ich beobachtete Huftiere und sah dabei einmal einen Schneehasen», sagt der 36-jährige gebürtige Deutsche. Er beschloss, die Langohren genauer zu untersuchen. Wobei der Ausdruck «Langohr» beim Schneehasen eigentlich fehl am Platz ist: Seine Löffel, wie sie in der Jägersprache heissen, sind deutlich kürzer als jene seines engsten Verwandten, des Feldhasen. Das hat damit zu tun, dass Hasen über ihre Ohren Wärme abgeben, wenn ihnen heiss ist. Als Bewohner der Tundra und der alpinen Gebirge benötigt  der Schneehase dies weniger; für ihn wäre ein grosser Wärmeverlust gar eine Gefahr.

«Der Schneehase ist ein wahrer Überlebenskünstler in den Alpen», sagt Rehnus, der heute an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) sowie beim Verein Wildtier Schweiz arbeitet. Das beginnt beim Fell. Zwei Mal im Jahr kleiden sich die Hoppeltiere quasi neu ein: Auf den Winter hin wird ihr Haarkleid schneeweiss, nur an den äussersten Ohrenspitzen bleiben noch ein paar schwarze Härchen stehen. Im Frühjahr wechselt die Fellfarbe dann wieder zu graubraun. Auf diese Weise ist der Schneehase zu allen Jahreszeiten kaum vom Untergrund zu unterscheiden.

Diese Tarnung hat er auch bitter nötig. Denn Feinde wie der Steinadler, der Fuchs oder der Marder haben scharfe Augen. Um ihnen zu entgehen, wird der Schneehase erst bei Einbruch der Nacht so richtig aktiv. Tagsüber döst er meist in sicherer Deckung unter einem Stein oder unter Legföhren. Allerdings kann er sich auch nachts nie sicher fühlen, denn für den Uhu zum Beispiel ist ein Schneehase ein Leckerbissen.

Stress in den Wintersportgebieten
Um im Winter seinen Verfolgern zu entkommen, hat der Schneehase noch einen anderen Trick auf Lager: den «Schneeschuh­effekt». Er kann seine Hinterpfoten spreizen und sinkt dadurch im tiefen Schnee nicht so schnell ein. «Bei einer Verfolgungsjagd im Schnee hat der Fuchs keine Chance», sagt Rehnus. Das heisst nun aber nicht, dass Schneehasen sich lieber im Tiefschnee bewegen. Rehnus hat bei Beobachtungstouren schon häufig die Abdrücke der Hasenpfoten auf Skipisten oder in den Spuren von Schneeschuhwanderern oder Skitourengängern entdeckt. «Die Hasen scheinen zum Teil gezielt diese Spuren zu benutzen, weil sie dort schneller und energiesparender vorwärtskommen», sagt er. Profitiert der Schneehase also gar vom Wintertourismus? «Sicher nicht», sagt der Spezialist. Im Gegenteil: Für seine Doktorarbeit hat Rehnus untersucht, ob Schneehasen in touristischen Gebieten gestresster sind als in abgeschiedenen Regionen. Dazu sammelte er im Engadin – in zwei Skigebieten und im Schweizerischen Nationalpark – den Kot von Schneehasen und mass den Pegel der darin enthaltenen Stresshormone. Es zeigte sich, dass die Tiere in den Skigebieten unter deutlich mehr Stress leiden als jene im Nationalpark, der im Winter geschlossen ist.

Im Natur- und Tierpark Goldau liess der Forscher über den Köpfen von dort gehaltenen Schneehasen einen Papierdrachen fliegen oder näherte sich ihrem Gehege mit einem Hund. Auf diese Stresssituationen reagierten die Hasen mit Flucht und einem erhöhten Energiebedarf bei der Nahrungsaufnahme. «Tourismusaktivitäten haben ganz klar negative Auswirkungen auf den Schneehasen», sagt Rehnus. Eine Studie beim nahe verwandten nordamerikanischen Schneeschuhhasen habe gezeigt, dass Stresssituationen dazu führen, dass Hä­sinnen weniger Junge setzten und diese kleiner und von schwächerer Konstitution waren. 

Darum sei es wichtig, als Bergtourist Rücksicht auf Schneehasen und andere Wildtiere zu nehmen, sagt Reto Solèr, Leiter der Kampagne «Respektiere deine Grenzen», die sich für ein Nebeneinander von Wintersporttourismus und Natur einsetzt. «Schneesportler abseits der Pisten sollten unter anderem Wild­ruhezonen und Wildschutzgebiete beachten und im Wald auf Wegen und bezeichneten Routen bleiben», sagt er.

Verhängnisvolle Affären mit Verwandten

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 Die Kreuzung mit Feldhasen ist eine Gefahr für den Schneehasen.
 Bild: xulescu_g/Flickr/CC-BY-SA  

Maik Rehnus sieht noch andere Gefahren auf den Schneehasen zukommen. Ungemach droht ihm ausgerechnet von seinem grösseren Verwandten, dem Feldhasen. Die Verbreitungsgebiete der beiden Arten überlappen sich nämlich: Bei einer Untersuchung fand Rehnus Schneehasen nicht nur im Hochgebirge, sondern schon ab etwa 700 Meter über Meer. Der Feldhase seinerseits ist bis in Gebirgslagen von etwa 1500 Meter Höhe anzutreffen. Nicht, dass sich die beiden Arten bekämpfen würden. Ganz im Gegenteil: Schneehäsinnen suchen sich jeweils einen möglichst kräftigen Rammler – da lassen sie sich gerne auf ein Techtelmechtel mit den grösseren Feldhasen ein. 

Schon vor ein paar Jahren haben Forscher das Erbgut von Bündner Schneehasen untersucht und bei ungefähr fünf Prozent Hinweise auf Feldhasen-Vorfahren gefunden. «Falls der Feldhase im Zug der Klimaerwärmung weiter nach oben wandert, könnte es häufiger zu solchen Kreuzungen kommen», sagt Rehnus. Problematisch könnte die Erderwärmung für den Schneehasen auch werden, weil dadurch vielleicht auch in den Alpen seltener Schnee liegt. Hat der Hase dann sein Fell bereits von braun auf weiss gewechselt, ist er leichte Beute für Steinadler und Co.

Solche Befürchtungen sind allerdings Spekulation. Denn momentan sind Fakten über den Schneehasen in der Schweiz so dünn gesät wie Kräuter auf einer Alpwiese im Winter. Noch nicht einmal zum Bestand gibt es verlässliche Zahlen. Klar ist nur, dass jedes Jahr etwa 1200 bis 1700 Schneehasen von Jägern abgeschossen werden, die meisten in Graubünden. Daraus entstanden Schätzungen, wonach etwa 14 000 Schneehasen in der Schweiz leben. Doch wie genau solche Hochrechnungen sind, vermag niemand zu sagen.

Genau solche grundlegenden Fragen möchte Rehnus mit langfristigen Untersuchungen angehen. Denn er ist überzeugt: Nur mit mehr Wissen kann der Mensch den Schneehasen schützen. Damit der heimliche Alpenbewohner auch künftig durch den Schnee hoppelt und neugierige Skifahrer an der Nase herumführt.