Am 18. November entdeckte ein Vogelbeobachter in der Nähe von Grandson am Südwestufer des Neuenburgersees einen unscheinbaren gräulich braunen Vogel. Seine Meldung verbreitete sich in der Szene wie ein Lauffeuer: «Verrückt», «Sensation» konnte man auf sozialen Medien lesen, oder «Irrgast des Jahres».

Denn tatsächlich handelte es sich bei dem Vogel nicht um eine heimische Art, sondern um eine Rarität– einen Schachwürger (Lanius schach). Dieser Verwandte unseres Neun­töters ist in grossen Teilen Asiens verbreitet, von Turkmenistan und Afghanistan über Indien bis nach Südchina und Indonesien. Er erbeutet mit Vorliebe Insekten, aber auch Würmer, Spinnen, Eidechsen, Frösche, Mäuse oder kleinere Vögel. Normalerweise bleiben Schachwürger das ganze Jahr über in ihrem Brutgebiet, manche ziehen im Herbst innerhalb Asiens in etwas südlichere oder südöstlichere Gefilde. 

Der Schachwürger von Grandson VD im Video (Video: Kilian Disler):

[EXT 1]

Einem einsamen Tod geweiht
Das Tier in Grandson hingegen hatte es mindestens 4000 Kilometer nach Westen verschlagen. «Es ist der erste Nachweis überhaupt des Schachwürgers in der Schweiz und erst der sechste in Europa», sagt Michael Gerber, Projektleiter Ausbildung und Jugendarbeit beim Schweizer Vogelschutzverband BirdLife Schweiz. Gerber fuhr selber an den Neuenburgersee, um den raren Vogel zu beobachten und zu fotografieren. Es seien mehrere Dutzend Ornithologen vor Ort gewesen, erzählt er, darunter auch solche aus Italien oder Luxemburg.

Weshalb sich der Schachwürger in die Schweiz verirrt hat, kann niemand genau sagen. «Die Zugrichtung ist bei Vögeln zumindest teilweise genetisch verankert», sagt Gerber, «vielleicht handelt es sich um einen Gendefekt.» Das Tier habe einen vitalen Eindruck gemacht. «Ich sah, wie er einen Regenwurm erbeutete und andere Beobachter fotografierten ihn mit einer Wespe im Schnabel.» Trotzdem glaubt Gerber nicht, dass der aussergewöhnliche Besuch ein Happy End haben wird. Eine Woche nach seiner Entdeckung war der Schachwürger verschwunden. Die Chancen, dass er den Winter überlebt und zurückfindet nach Asien, sind gering.