Die Heilige Familie liegt Frank Gutzke besonders am Herzen: «Das Kleine kam am Heiligabend zur Welt. Meistens halten die Mütter die Bullen nach der Geburt fern von den Babys. Hier aber wälzte sich der Alte aus dem Wasser und begrüsste sein Weibchen Nase an Nase – fast sah es aus, als küssten sie sich. Seitdem liegen sie hier in trauter Dreisamkeit herum.»

Der wettergegerbte Wikinger, im richtigen Leben Rentner, hält nun schon seit über drei Wochen Wacht auf der Düne, der kleinen Sandinsel direkt vor Helgoland, auf der auch der Flugplatz liegt. Ab Dezember werfen hier die Kegelrobben ihre Jungen, und Frank Gutzke und seine Kollegen vom Vogelschutzverein Jordsand achten darauf, dass sie nicht allzu sehr gestört werden.

Lange Zeit galten Kegelrobben an deutschen Küsten als ausgestorben. 1989 aber kehrte die erste nach Helgoland zurück, das erste Junge wurde 1996 geboren. Seitdem wächst der Bestand kontinuierlich. 246 Geburten wurden im Winter 2014/2015  gezählt. Im Jahr zuvor waren es noch 168 gewesen.

Der stolze Papa und seine Herzdame
Kegelrobben sorgen vor der Kulisse von Deutschlands einziger Hochseeinsel für den wohl niedlichsten Nachwuchs des Landes – ein derart superlativ-trächtiges Ereignis wollen die Helgoländer natürlich auch touristisch vermarkten. Doch verträgt sich der Wunsch der Besucher, den Tieren möglichst nahezukommen, nur begrenzt mit deren Bedürfnis, ihre Kleinen ungestört grosszuziehen. Damit die Gratwanderung gelingt, trotzen Gutzke und seine Kollegen täglich freiwillig kaltem Niesel und heftigen Böen.

Von Helgoland setzen die Besucher mit einer kleinen Fähre zur Düne über. Dann stapfen sie los, querfeldein über die Sandstrände, die die 0,7 Quadratkilometer grosse Insel von drei Seiten einrahmen. Sand sägt und schrabt und schmirgelt in weissen Schwaden über den platten Boden, und da liegen sie schon, vereinzelt in Kuhlen und halb zugeweht: 60, 70 Zentimeter lange, regungslose dicke Maden in schmutzigweissem Kuschelfell. Der Wind beisst, und manchmal befürchtet man, sie seien erfroren – bis einen aus dem Sand doch wieder zwei schwarze, hellwache Kulleraugen anblicken. Die Mutter daneben, eine hellgraue, fast zwei Meter lange Speckrolle, hebt ab und zu aufmerksam den spitzen Kopf. Und aus der Gischt am Meeressaum behält der stolze Papa, eine schwarz glänzende Walze von fünf, sechs Zentnern Lebendgewicht, sein Revier und die Dame seines Herzens aufmerksam im Blick. Herumliegen, schlafen, nuckeln an Mutters Zitzen – junge Robben bersten nicht gerade vor Aktivität. Aber schliesslich besteht ihre Hauptaufgabe darin, sich pro Tag ein Kilo Speck auf die Rippen zu saugen. Manchmal wiegen sie sich auf dem Rücken oder robben, auf die Vorderflossen gestützt, wie tolpatschige Armeerekruten ein Stück durch den Sand. Tasten aber immer mal wieder mit der Flosse hinüber: Ist Mama wirklich noch da?

Näher als 30 Meter sollten sich Beobachter den Tieren nicht nähern – ein Abstand, den nur die wenigsten einhalten. Benimmt sich jemand gar zu penetrant, redet Gutzke schon mal Klartext: «Sie bleiben jetzt einfach mal ruhig stehen! Mit ihrem Hin- und Hergehampel machen sie die Tiere ganz nervös. Geben Sie ihnen doch mal die Möglichkeit, sich an Sie zu gewöhnen.»

Jeder Besucher kann auf eigene Faust losziehen und das sehr beschauliche Familienleben der Robben studieren. Oder auch mal miterleben, wie ein Bulle zügig das Wasser verlässt, erstaunlich schnell den Sandhügel hochwatschelt, drohend das Maul aufreisst – und wie der kleinere Nebenbuhler schleunigst das Feld räumt, der herangeschlichen ist, als könnte er kein Wässerchen trüben und doch nichts anderes im Sinne hatte als seines Nächsten Weib.

Interessanter aber ist ein Rundgang mit dem offiziellen «Seehundjäger» Rolf Blädel, der zwar schon auch mal eine schwer verletzte oder kranke Robbe erschiessen muss, sich aber vor allem als Heger der Tiere versteht. Nass und zottig liegt ein Junges, das erst vor zwei Stunden geboren wurde, neben seiner Mutter, ein Stück Nabelschnur noch am Bauch. «Geburten verlaufen wie bei Menschen ganz unterschiedlich», erklärt Blädel. «Manchmal dauern die Wehen lange. Einmal aber haben wir miterlebt, wie während der Geburt ein Flugzeug über der Mutter runterging: Plopp – vor Schreck war das Junge da!»

Mit etwas Glück sind Touristen sogar dabei, wenn Blädel sich einen der kleinen Wonneproppen an der Hinterflosse greift und ihm mit einer Zange eine grüne Identifikationsmarke antackert, ohne sich um das Gezappel zu kümmern.

Eine durchlöcherte Insel
Zwei drei Stunden – mehr Zeit auf einmal verbringen nur wenige Besucher bei den Robben. Schliesslich gilt es, auch Helgoland zu erkunden, dieses Unikum von einer Insel mit seinen alten Molen, dem Aufzug zwischen den Stadtteilen Unter- und Oberland und den schiefergedeckten Häusern aus den 1950er-Jahren in Reihen parallel zum Meer.

Zerbombt, teils in die Luft gejagt, eingeebnet, wieder aufgeschüttet und hochgezogen – einem Teil der wechselvollen Vergangenheit des roten Sandsteinbrockens kommt man bei einer Bunkerführung auf die Spur. Wie eine wurmstichige Planke hatte die Wehrmacht die Insel durchlöchert: Fast 14 Kilometer Gänge zogen sich durch den Fels. Alle militärischen Anlagen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg gesprengt. Erhalten und zu besichtigen sind heute nur noch 370 Meter zivilen Bunkers.

An die Geschichte der Hummerfischerei wiederum erinnern Museum und Aquarium. Hummer, einst das Markenzeichen Helgolands, sind selten geworden um die Insel, auch wenn Forscher sich um seine Wiederansiedlung bemühen. Ersatzweise propagieren die Helgoländer als neue Spezialität «Knieper», die Scheren des im Überfluss vorhandenen Taschenkrebses. Kulinarisch freilich ist dies kein Ersatz: Das faserige Fleisch erinnert geschmacklich am ehesten an ausgekochten Zellstoff – die Sossen dazu müssen es richten.

Abstecher bis nach Schottland
Ein, zwei Mal heisst es natürlich, das Hochplateau auf dem drei Kilometer langen Klippenweg zu umrunden – je stürmischer das Wetter dabei, desto besser: Bei Stärke zehn schaufelt der Wind Leute vor sich her und gibt den Kormoranen und Möwen Gelegenheit zu ein paar tollen Luftnummern.

Noch einmal geht es hinüber zu Frank Gutzke. Der wacht heute in der Nähe zweier Jungtiere. Sie sind schon ergraut und verlieren gerade die letzten Büschel des flauschigen Babyfells. Rund vier Wochen zählen die beiden, und bald ist Schluss mit lustig und der Gratisabfüllung an Mutters Zitzen. Jeden Morgen kann es so weit sein, dass sie sich auf den Weg machen hinunter zur See. Das Vagabundenleben ruft, mit Ausflügen nach Schottland und Norwegen, und auch das Dasein als Selbstversorger: Anderswo schmecken Hering und Sandaal noch besser als bei Mama. «Und in fünf, sechs Jahren», sagt Gutzke, «wenn sie sich die Hörner abgestossen haben, kommen sie zurück nach Helgoland und gründen hier ihre eigene Familie.» Es muss ja nicht immer eine Heilige sein.

Anreise und Tipps
Helgoland ist mit dem Schiff in 2½ Stunden von den norddeutschen Häfen Cuxhaven, Büsum und Bremerhaven zu erreichen. Mit dem Katamaran von Hamburg in 70 Minuten. Eine Übersicht über alle Anreisemöglichkeiten bietet die Website www.helgoland.de. Auf Helgoland selbst sind alle Wege zu Fuss zu erledigen. Zur Düne verkehrt eine Fähre stündlich.

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