Ausgerechnet heute muss ich die Regenjacke montieren. Mittlerweile hat es zwar schon wieder aufgehört zu regnen, aber wie ich mich unter den tiefhängenden Ast bücke, platschen mir schwere Tropfen in den Nacken. Dem Fotografen ist es egal. Er hält drauf, als ich den Karton­streifen aus der dreieckigen Röhre ziehe. Zwei von der Feuchtigkeit wellige Blätter Papier kommen zum Vorschein. Wieder keine Spur drauf. Dafür ist das Futter aus der Plastikschale in der Mitte des Kartons verschwunden. Es war nicht der Igel, den ich eigentlich damit anlocken wollte. Die Schleimspur auf dem Schalenrand verrät: Es waren Schnecken.

«Tierwelt»-Redaktor Matthias Gräub erzählt von seinen Erfahrungen in der Igelwoche (Beitrag: Leo Niessner):

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Während einer Woche bin ich Igelforscher. Oder zu Neudeutsch: «Citizen Scientist», Bürgerwissenschaftler. Ich gehe den Stadtigeln auf die Spur, als einer von zwei Dutzend freiwilligen Naturfreunden allein in Bern, und noch viel mehr von ihnen schweizweit. Das Projekt heisst «Igel gesucht» und ist vor zwei Jahren in Zürich gestartet. Dahinter stehen Wildtierbiologin Sandra Gloor und der Verein StadtNatur – und eine bange Vermutung.

Die Frage nach dem Wieso
«Als wir 2015 Igelbeobachtungen in der Stadt Zürich gesammelt haben, kamen nur ganz wenige Rückmeldungen», sagt Gloor. Bei einer früheren Untersuchung Anfang der Neunzigerjahre hatte es noch deutlich mehr Igel-Nachweise im Stadtgebiet gegeben. «Wir fanden das seltsam und haben uns gefragt, ob ein Rückgang tatsächlich stattfindet.» Seit dem ersten Freiwilligenprojekt mit Spurentunnels im Jahr darauf hat sie Gewissheit: In vielen Quartieren, in denen 1992 noch Igel lebten, gibt es heute keine mehr.

Wieso, dafür existieren Thesen, aber keine Beweise. Zum Beispiel gibt es heute mehr Dachse als früher – sie sind neben dem Uhu die einzigen Räuber, die es schaffen, einen zusammengerollten Igel aufzuknacken. «Ich denke aber nicht, dass es so viele Dachse gibt, um einen Einfluss auf die Igelpopulation zu haben», sagt Sandra Gloor. Viel eher glaubt sie an einen Igelrückgang aus anderen Gründen. Dem Insektenrückgang etwa oder der Verdichtung des Siedlungsraums. Aber eben: Beweise gibt es noch keine.

Helfer gesucht
Derzeit sind schweizweit Freiwillige gesucht, die ausserhalb der grossen Städte beim Spurentunnel-Projekt mitmachen. Eine Karte mit den verfügbaren Standorten findet sich auf: www.wildenachbarn.ch. Dort können unabhängig davon auch Igelbeobachtungen gemeldet werden.

Zwei Jahre nach dem Zürcher Projekt ist Bern dran. Hier gibt es keine Referenz aus den Neunzigern; ob in Bern mehr oder weniger Igel leben als vor zwanzig Jahren, werden wir nicht herausfinden. Sehr wohl aber, wo es welche gibt. Ich bin zuständig für das Lorraine-Quartier, keine 500 Meter vom Hauptbahnhof entfernt, direkt auf der anderen Aareseite. Zehn schwarze Kartonbogen habe ich zu dreieckigen Röhren gefaltet und in zehn Gärten im Quartier verteilt. In Gärten, in denen sich idealerweise Igel tummeln. 

Um die besten dieser Gärten zu finden, habe ich mich schlau gemacht. Hohes Gras statt englischem Rasen wäre toll. Lieber eine Hecke aus vielen verschiedenen Pflanzenarten um den Garten als ein Zaun. Und wenn doch, dann bitte einer, zwischen dessen Latten der Igel hindurchschlüpfen kann. Zehn Zentimeter braucht er dafür etwa. Gefragt sind auch Komposthaufen in der Nähe, denn wo Pflanzen verrotten, tummeln sich Insekten. Und die sind des Igels Leibspeise.

Nachts gehört die Stadt dem Igel
So habe ich mir also zehn Standorte ausgesucht, die ich, wäre ich ein Igel, auf meinen nächtlichen Spaziergängen besuchen würde. Diese Streifzüge sind übrigens nicht zu unterschätzen: Bis zu fünf Kilometern kann ein Igel in einer einzigen Nacht zurücklegen. Gefährlich wird es, wenn er dabei Strassen überqueren muss.

Nordring heisst die viel befahrene Strasse, die das Berner Lorrainequartier quer durchschneidet. Jetzt, im spätnachmittäglichen Feierabendverkehr, ist kaum vorstellbar, dass sich ein Igel hier drübertraut. Nachts dürfte dies anders aussehen. Dann gehört die Stadt den Katzen, den Füchsen und den Igeln.

Bei grün überquere ich die Strasse und mache mich auf zu meinem Lieblingsgarten. Blumen spriessen hier links und rechts aus dem Boden, die Gemüsebeete versprechen eine satte Ernte, aus dem Kompost stinkt es herrlich igelfreundlich. Das Ehepaar, das hier wohnt, ist wie jeden Tag auf der Terrasse und scheint genauso neugierig wie ich zu sein, ob der Igel heute endlich seine Spuren hinterlassen hat. Dass er sich nämlich hier herumtreibt, da sind sich die beiden ganz sicher; sie haben ihn mit eigenen Augen gesehen.

Das System der Spurentunnel ist rasch erklärt. In jede der Röhren habe ich einen Kartonstreifen geschoben. Darauf befindet sich eine Futterschale, die den Igel auf seiner nächtlichen Futtersuche anlocken soll. Der Karton daneben ist mit wasserlöslicher Farbe bestrichen, die dafür sorgen soll, dass der sattgefressene Igel raustapsend ein weisses Papierblatt mit seinen Pfotenabdrücken verziert. 

Aber auch dieser Kartonstreifen ist heute weiss geblieben. Nicht einmal Schnecken haben sich für den Köder interessiert und die Katze hat schon in der ersten Nacht gemerkt, dass ihr getrocknete Maden nicht sonderlich schmecken. Ihr schwarzer Pfotenabdruck auf dem Papier hat aber bewiesen, dass der Spurentunnel nicht nur für Igel gross genug ist.

Ich schiebe es auf die miesen Wetterbedingungen, dass die Spurenblätter heute weiss bleiben. Sandra Gloor lässt das nicht gelten. «Für die Igel ist Regen sogar gut. Die lassen sich davon nicht abschrecken, ausser es regnet extrem stark», sagt sie. «Ausserdem zeigen sich dann mehr Schnecken und Würmer, die sie gerne fressen.»

Das einzige Problem, das die Untersuchung verfälschen könnte, sind aber genau diese Schnecken. «Die fressen alles weg. Das Futter, die Farbe. Bei mir haben einmal sogar die Blätter ausgesehen wie Scherenschnitte», sagt Gloor mit einem Lachen. «Das kann schon einen Einfluss auf die Datenerhebung haben.» Ansonsten aber, sagt sie zu meiner Überraschung, könne ich mit einer hohen Wahrscheinlichkeit davon ausgehen: Wenn es Igel in der Nähe des Spurentunnels hat, dann hinterlässt er im Laufe der Versuchs-woche auch seinen Pfotenabdruck. 

Stammgast auf der Baubrache
Auch wenn das Ehepaar im Garten schwört, der Igel komme hier regelmässig vorbei: heute Nacht blieb das Papier weiss. Ganz anders sieht es auf der anderen Seite der Hauptstras­se aus. In einer Brache, wo sich ein paar Hobbygärtner zusammengetan haben, um Gemüse anzubauen, ist der Igel Stammgast im Tunnel. Schon am ersten Tag hat er den Köder geschluckt, seither ist auf ihn Verlass. So überrascht es mich nicht, dass ich Pfotenabdrücke sehe, als ich den Kartonstreifen rausziehe. Fast wie kleine Menschenhände sehen sie aus, mit fünf Fingern um eine winzige Handfläche.

«Ja», schreibe ich – zum ersten Mal heute – in die Spalte «Fussabdrücke?» auf dem Formular, das ich für jeden der zehn Spurentunnels täglich ausfülle. «Ja» kommt auch in die Spalte «Köder gefressen?». Am Ende der Woche werden es vier der zehn Zeilen sein, in der mindestens einmal «ja» steht – auch im Garten des Ehepaars zeigt er sich letztlich noch. Der Igel fühlt sich also durchaus wohl in der Lorraine. Und erste Auswertungen aus Bern geben laut Sandra Gloor Anlass zur Hoffnung. «Bis jetzt hat jeder Freiwillige in seinem Quartier Igelspuren gefunden.»