Es ist noch nicht ganz ein Jahr her, da traf Kerstin Kummer zum ersten Mal ins Schwarze. Auf der Hochwildjagd im Wallis schoss sie einen Hirschstier. Heute sitzt die 22-jährige Jungjägerin in einem Strassencafé in Brig und erinnert sich: «Ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder weinen soll.» Eine grosse Ehrfurcht vor dem Leben spricht aus ihr. Eine echte, keine gespielte.

Kummer ist die erste Jagdbotschafterin der Schweiz. Kurz nach ihrem ersten Abschuss bewarb sie sich auf den Titel «Schweizer Jägerin», der vom Monatsmagazin «Schweizer Jäger» im Winter zum ersten Mal vergeben wurde – und gewann die Internetabstimmung haushoch. Dabei wollte sie erst gar nicht mitmachen: «Ich hatte Bedenken», sagt sie. Kummer wusste, dass die Jagd in der Schweiz einen zweifelhaften Ruf hat und dass auf so eine «Miss Jagd» nicht nur positive Reaktionen zukommen würden. «Ich fragte mich: Habe ich einen genug breiten Rücken?» Letztlich blieb ihr gar keine Wahl. Ihre Jägerkollegen forderten sie auf: «Entweder du meldest dich an, oder wir tun’s.» Sie tat es selbst.

Morddrohungen landen direkt im Ofen
Seit März ist sie nun im Amt als Jagdbotschafterin und geniesst die Rückendeckung ihrer Kollegen und ihrer Familie. «Die Reaktionen waren noch schlimmer als befürchtet», erinnert sich Kummer. «Es gab sogar Morddrohungen.» Die schlimmsten Briefe, erzählt die Jägerin, bekam sie gar nicht zu Gesicht. «Die hat meine Mutter gleich im Ofen verbrannt.» Mittlerweile hat sie sich daran gewöhnt, das Gesicht ihrer Zunft zu sein und ihren Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. «Ich kann keinen bekehren, der die Jagd hasst», sagt sie zwar, «aber ich habe gemerkt: Mit einer freundlichen Art kann man viel bewirken.» So erzählt sie etwa von einer Jagdgegnerin, die sie mit Anrufen bombardiert hatte. «Irgendwann nahm ich das Telefon ab und liess mich beschimpfen», sagt sie. Eine halbe Stunde später war das Gespräch beendet. «Wir waren zwar dann noch immer nicht einer Meinung, aber wir konnten uns freundlich voneinander verabschieden.»

Im Gespräch offenbart sich, dass die Blondine mit den hellwachen Rehaugen mehr als nur ein hübsches Gesicht, ein PR-Instrument, für die Jagd ist. Sie nimmt auch ihre eigene Zunft in die Pflicht. «Da sind viele spezielle Leute dabei», sagt sie, «die dürfen keinen Seich machen.» So fordert sie von der Jägerschaft, auf ihren Ruf zu achten, denn ein wenig Angst habe sie schon: «Ich möchte nicht, dass die Jagd plötzlich verboten wird.» 

Der Bruder war der erste Jäger
Die «Schweizer Jägerin 2015» taut langsam auf. In ihrem ersten halben Amtsjahr hat sie sich offenbar daran gewöhnt, ihren Gesprächspartnern gegenüber erst einmal eine Abwehrhaltung einzunehmen. Sich und ihre Leidenschaft rechtfertigen, Kritik einstecken, beschwichtigen und berichtigen. Nun allmählich scheint sie Vertrauen zu fassen, nun beginnen ihre Augen zu leuchten, nun darf sie erzählen. 

Kerstin Kummer lebt in Bitsch VS bei ihrer Familie. Einer Jägerfamilie. Ihr Vater und ihre drei Brüder gehen ebenfalls auf die Jagd. Nur die Mutter nicht. «Sie weigert sich sogar, Wildfleisch zu essen», sagt die Jungjägerin mit einem Schmunzeln. «Aber sie kocht es für uns.» Die Kummers klingen also nach einer generationenalten Jägerfamilie, Kerstin nach der Tochter, die gar keine andere Wahl hatte, als das Hobby der Männermannschaft aufzunehmen. Die Jägerin interveniert. «Mein Bruder war der Erste, der mit der Jagd begann.» Das war vor neun Jahren. Dann kam der zweite Bruder hinzu. «Die beiden hatten kein anderes Gesprächsthema mehr», also folgten der Vater und der dritte Bruder. «Vor ihren Prüfungen habe ich sie alle abgefragt», sagt Kummer. Selber brauchte sie noch eine Weile. Erst, als sie mit ihrem damaligen Freund den ersten Abschuss miterlebte, entschied sie sich, das Jagdpatent ebenfalls zu machen. «Ich habe noch am selben Tag angerufen und mich für die Prüfung angemeldet.»

Die Oberwalliserin ist nicht nur während der Jagdsaison im Wald. Es gibt das ganze Jahr etwas zu tun. Beobachten, spiegeln, wie die Jäger sagen, wo sich Hirsch und Reh gerade aufhalten, um sich für die Jagd den besten Platz zu sichern. Schauen, wie es den Gämsen geht. Bevor sie morgens zu ihrer Arbeit als Glasbläserin fährt, gönnt sie sich oft einen kurzen Ausflug in die Natur. «Das Schönste ist die Ruhe dort», sagt sie. «Man erhält so viele Eindrücke.» Und plötzlich bricht aus der selbstbewussten jungen Frau ein Mädchen heraus, das strahlend erzählt: «Einmal sass ich am Waldrand und war ganz still. Da kam plötzlich ein Fuchs auf mich zu. Immer näher. Bis auf etwa drei Meter an mich heran.» Solche Momente seien es, die sie geniesse. Das Tier von ganz nahe sehen, es erleben.

Von ganz nah sieht die Jägerin auch ihre Beute. Ihren frisch erlegten ersten Hirsch etwa. Ein emotionaler Moment war das für Kummer, aber auch ein faszinierender. Zur Jagd gehört auch das Ausnehmen. Den Tierkörper aufschneiden, die Innereien rausnehmen. «Ausweiden finden viele ‹grusig›», sagt Kummer. «Ich finde es interessant. Du siehst an den Organen, ob das Tier gesund war.» Diese Faszination kann nicht jeder verstehen, das ist ihr auch bewusst. «Wahrscheinlich ist dieser Jagdtrieb einfach im Menschen drin. Entweder, du hast ihn, oder du hast ihn nicht.»

Kerstin Kummer hat den Jagdtrieb. Sie steht dazu und trägt ihn als Jagdbotschafterin nach aussen. Und noch bevor eine kritische Frage gestellt wird, ist sie wieder in ihrem Abwehrmodus angelangt: «Wenn wir auf die Jagd gehen, hat das Tier eine Chance», sagt sie. «Im Schlachthof ist das anders.» Den Zweikampf zwischen Mensch und Natur findet sie besonders spannend. «Ein Bock kann den Jäger riechen, wenn er ihm im Wind steht», sagt sie. «Dann haut er ab.» Um zu gewinnen, muss der Mensch das Tier überlisten.  

Zweikampf zwischen Mensch und Tier
Deshalb hält Kummer auch nicht viel von Safaris in Afrika, wo die Tiere womöglich noch in einem weitläufigen Gehege abgeschossen werden. «Ein Tier zu schiessen, nur, damit ich es getan habe, bringt nichts», sagt die Jägerin. «Ich mag lieber Dinge, die nicht so einfach gehen.» Deshalb mag sie auch die Schweiz mit ihren Bergen als Jagdrevier. «Hier musst du schon körperlich etwas leisten, um ein Tier zu schiessen.» Dass sie es schafft, erfüllt sie mit Stolz, gerade weil manch einer dachte, sie sei ein «Finöggeli», wie Kummer selber sagt.

Das Amtsjahr für die «Schweizer Jägerin 2015» ist in der Hälfte angelangt, und bald beginnt die aktive Zeit. Die Hochjagd im Wallis will Kerstin Kummer auf keinen Fall verpassen. «Ich habe schon zwei Wochen Ferien eingetragen», sagt sie. Dann, im September, darf sie ihr Gewehr wieder aus dem Keller holen und auf die Suche nach dem nächsten Volltreffer gehen. Danach wird sie sich wieder rechtfertigen müssen, aber darin hat sie ja mittlerweile genug Übung.