Herr Hossli, eine neue Studie von der World Fish Migration Foundation, der Zoological Society of London (ZSL), dem World Wide Found For Nature (WWF) und weiteren Partnern, lässt aufhorchen. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie die Meldung sahen, wonach der Bestand an Süsswasserfischen zwischen 1970 und 2016 europaweit um 93 Prozent zurückgegangen ist?
Obwohl ich mich täglich mit Süsswasserfischen und Gewässern auseinandersetze und die Datenreihen eigentlich kannte, war es für mich dennoch schockierend, diese Entwicklung so schwarz auf weiss zu lesen. Bedenklich ist vor allem die Tatsache, dass die Werte über all die Jahre kontinuierlich abnehmen.

Erwarten Sie einen Rückgang auf Null Prozent?
Diese Tendenz gibt es und es ist erschreckend, wieviele Süsswasserfische bei uns vom Aussterben bedroht sind. Rund zwei Drittel aller einheimischen Arten sind in der Schweiz bereits auf der roten Liste. Natürlich sind solche Zahlen immer mit Vorsicht zu geniessen. Denn bei den Erhebungen und Auswertungen entstehen immer Fehler und Ungenauigkeiten. Das gilt auch für den Wert von 93 Prozent. Doch auch wenn der Rückgang ein paar Prozentpunkte tiefer liegen sollte, ist er auf jeden Fall dramatisch und ein Problem, das man ernst nehmen muss. Wenn wir nicht handeln, verlieren wir in kürzester Zeit weitere einheimische Fischarten. 

Mit welchen Folgen?
Das ist eine Frage, die schwer zu beantworten ist. Sicher ist nur, dass sich dadurch das Ökosystem nachhaltig verändern wird, mit ganz unterschiedlichen Folgen. Denn ein Ökosystem ist ein sehr komplexes System aus vielen unterschiedlichen Elementen, die ineinander greifen. Kreisläufe mit biotischen und abiotischen Faktoren haben sich über lange Zeit entwickelt und sind in der Natur genau aufeinander abgestimmt. Fallen einzelne Elemente weg, etwa die Süsswasserfische, hat das also auch Auswirkungen auf die anderen Lebewesen und Pflanzen eines Lebensraums.

[IMG 2]

Heisst das konkret, es könnte mehr Parasiten in den Gewässern haben?
Das ist schwer zu sagen, die Folgen sind schwer vorauszusehen. Die Erfahrung zeigt aber, dass das Fehlen von einzelnen Schlüsselgruppen, zum Beispiel von Räubern beziehungsweise Raubfischen weitreichende Auswirkungen haben kann. Wenn Raubfische wie Lachs oder Hecht fehlen, könnten zum Beispiel Kleinstlebewesen stark zunehmen, da ein Teil ihrer natürlichen Feinde fehlt. Wenn zudem algenfressende Fischarten wegfallen, dürfte der Algenwuchs zunehmen. Das alles könnte im Endeffekt dann auch die Qualität des Trinkwassers negativ beeinflussen. Und nicht nur das.

Welche weiteren Folgen würden wir spüren?  
Die Flüsse dienen uns ja auch zur Erholung, wir baden gerne in ihnen oder machen es uns am Ufer bequem. Veränderungen könnten wir da also mitunter auch sehr direkt spüren

Werden andere Arten die entstehenden Lücken füllen – im Sinne einer Substitution?
Diese Veränderungen sind bereits in Gange, und sie könnten sich wohl noch verstärken. Die Schwarzmeergrundeln beispielsweise wandern über den Rhein ein. Die Regenbogenforellen machen sich in unseren Gewässern breit. Grundsätzlich handelt es sich dabei zwar um ein natürliches Phänomen: solche Neubesiedelungen gibt es immer wieder und sie sind für die Dynamik von Ökosystemen auch wichtig. Allerdings sollten die Verschiebungen natürlich nicht zu schnell vor sich gehen. Aktuell beobachten wir, dass sich Fischarten ausbreiten, die sich in wärmeren Gewässern wohl fühlen. Kälte liebende Fische wie Forelle oder Äsche haben unter den wärmer werdenden Gewässern zu kämpfen und könnten durch die neue Konkurrenz immer weiter verdrängt werden. 

Wie soll man mit ihr umgehen?
Das ist eine Gratwanderung. Lässt man diese Veränderungen einfach geschehen – selbst wenn sie so dramatisch sind wie zurzeit? Oder versucht man mit allen Mitteln, die charakteristischen Fischarten der Schweiz zu erhalten?

Und wofür setzen Sie sich ein?
Ich denke, eine gute Lösung bewegt sich irgendwo zwischen diesen beiden Extremen. Wir sollten den für unsere Gewässer charakteristischen Artenreichtum so gut wie möglich erhalten. Dabei gilt es abzuwägen, wie weit sich invasive Arten ausbreiten sollen und dürfen und im Einzelfall zu entscheiden, welche allfälligen Gegenmassnahmen getroffen werden sollen.

Es muss unbedingt dafür gesorgt werden, dass jetzt noch frei fliessenden Gewässer geschützt und erhalten werden.

Christian Hossli
WWF Schweiz

Wir haben über zu erwartende Folgen dieser Entwicklung gesprochen. Werfen wir einen Blick auf die Ursachen. Weshalb ist es so weit gekommen?
Weil unsere Gewässer leider ganz und gar nicht gesund sind. Nur noch ein kleiner Bruchteil, nur rund fünf Prozent, befinden sich in einem natürlichen beziehungsweise naturnahen Zustand.

Das erstaunt, hat man doch immer der Eindruck, Seen und Flüsse in der Schweiz seien besonders sauber.
Aus rein chemischer Optik betrachtet stimmt das. In den letzten 40 Jahren hat sich bei uns puncto Wasserqualität tatsächlich viel (zum Guten) verändert. Es gibt aber auch da noch Handlungsbedarf, Stichwort Pestizide oder Düngemittel. Gewichtiger als die Reinheit ist jedoch der massive Rückgang von Lebensräumen für die Fische. 

In welcher Hinsicht?
Unsere Siedlungsentwicklung hat die Gewässer massiv beeinträchtigt. Wir bauen immer näher an den Ufern. Flüsse und Bäche wurden kanalisiert und reguliert. Ausserdem errichtete man unzählige Wasserkraftwerke. In keinem anderen europäischen Land stehen so viele Hindernisse in den Gewässern. Für unsere Fische, insbesondere die Wanderfische, ist das ein ernsthaftes Problem. Weil die Gewässer nicht mehr vernetzt sind, können sie ihre Laich- und Nahrungsplätze nicht mehr erreichen. In heissen Sommern, wenn sich die Gewässer erwärmen, können die Tiere nicht mehr in kältere Gefilde ausweichen. Diese Veränderungen betreffen die Wanderfische natürlich speziell und haben unter anderem dazu geführt, dass bei uns der Lachs ausgestorben ist. Und auch bei Aal sowie Äsche ist der Rückgang besonders massiv. 

Wie sieht es diesbezüglich europaweit aus, sprich dem Abdeckungsgebiet der Studie?
Die Lage in Westeuropa lässt sich mit der Schweiz vergleichen. In Italien, Österreich, Frankreich und Deutschland ist die Wasserqualität grösstenteils gut, doch auch dort sind die Gewässer häufig stark verbaut. Diese Gewässer müssen wieder aufgewertet und aus ihren engen Korsetten befreit werden. Anders ist die Situation im Balkan: Noch findet man dort viele unverbaute oder nur schwach genutzte Gewässer vor. Das soll sich bald ändern. Wie bei uns vor ein paar Jahrzehnten macht dort die Wasserkraft-Lobby zurzeit Druck und will unzählige Kraftwerke mit Stauwehren errichten. Das macht mir grosse Sorgen. Es muss unbedingt dafür gesorgt werden, dass diese jetzt noch frei fliessenden Gewässer geschützt und erhalten werden.

Welche Massnahmen plant der WWF, um den Rückgang der Süsswasserwanderfische aufzuhalten oder zumindest abzuschwächen?
Es ist zwar nicht Fünf vor Zwölf, aber sicher Zehn vor Zwölf. Das heisst, wir müssen dringend etwas unternehmen. Grundsätzlich geht es darum, unsere Wasserarbeit, welche wir schon viele Jahre leisten, fortzusetzen und weiter zu intensivieren. Ich denke, wir müssen vermehrt auf die Situation und den schlechten Zustand unserer Gewässer hinweisen und weiter Aufklärungsarbeit leisten. Andererseits setzen wir auch selber konkret dafür ein, dass Gewässerabschnitte wieder aufgewertet und revitalisiert werden.

Wie soll das geschehen?
Wir stossen selber Aufwertungsprojekte an, arbeiten auf politischer Ebene und setzen uns in laufenden Projekten, zum Beispiel im Rahmen grosser Hochwasserschutzprojekte dafür ein, dass diese möglichst ökologisch ausgestaltet werden. Unsere Gewässer sind momentan sehr verarmt, ihnen fehlen die nötigen Strukturen und unterschiedlichen Lebensräume. Diese gilt es wieder neu zu schaffen. Weiter gehört dazu, dass Hindernisse, die keine Funktion mehr erfüllen, rückgebaut werden. Wo das nicht möglich ist, sollen die Bauten fischgängig gestaltet werden– mit dem Ziel, dass sich die Lebewesen frei bewegen können. Wir müssen unbedingt verhindern, dass noch weitere Arten aussterben.