Es ist zwei Uhr nachmittags. Fütterungszeit in der Fledermaus-Notpflegesta­tion. Die Kinder im Besucherraum strecken neugierig ihre Köpfe durchs Fenster. Dann öffnet Katja Leicht eine graue Plastikbox. «Na, wo hast du dich versteckt?», fragt sie – fast schon rhetorisch. Wenige Sekunden später fischt die Biologin mit gekonntem Griff ein etwa fünf Wochen altes Zwergfledermaus-Weibchen zwischen zwei Borken hervor.

Keine vier Zentimeter gross und nur vier Gramm schwer, beginnt der dunkelbraune, flauschige Körper des Jungtiers zu zittern. Die Kinder schauen besorgt. Katja Leicht erklärt das Schauspiel: «Die zittert nicht vor Angst, die wärmt nur ihre Muskulatur auf.» Damit bringe sich das sonst nachtaktive Tier auf Betriebstemperatur. Drei Minuten später kaut die Fledermaus auf einem Mehlwurm, der ihr mit einer Pinzette gereicht wird. Der Chitinpanzer des Wurms wurde vorher entfernt. Die kleinen Zähnchen könnten ihn nur schlecht durchbohren. 

«In der Natur fressen Zwergfledermäuse am liebsten Mücken», sagt die 35-Jährige. Aber solche zu züchten und zu verfüttern, wäre ein zu grosser Aufwand. Fledermausbabys hingegen würden mit Katzenwelpenmilch grossgezogen. «Es sind ja Säugetiere, die sonst Muttermilch trinken.»

Eine Fledermaus gefunden: was tun?
Fledermäuse sind scheue Wildtiere, die den Menschen meiden. Wer ein erschöpftes oder verletztes Tier findet, sollte wie folgt vorgehen:

Eine kleine Kartonschachtel mit zerknülltem Papier füllen und mit Luftlöchern versehen. Wasserschale hineinlegen.

Fledermaus vorsichtig mit einem robusten Handschuh ergreifen, um Bissverletzungen zu vermeiden und sich vor Krankheiten wie der Fledermaustollwut zu schützen.

Fledermaus in die Schachtel legen. Deckel drauf und mit Klebeband gut verschliessen. Fledermäuse sind Ausbruchskünstler. 

Fledermausschutz-Nottelefon anrufen unter 079 330 60 60 (24-Stunden-Betrieb).

Fledermaus im Wohnraum (gilt nur für Sommer): Ruhig bleiben, Fenster öffnen, Licht löschen. In der Regel findet das Tier selbst hinaus. Sonst wie oben vorgehen.

Weitere Infos gibts bei der Stiftung Fledermausschutz

Die Notpflegestation der Stiftung Fleder­mausschutz steht auf dem Gelände des Zoos Zürich. Dieser unterstützt die Stiftung zusammen mit dem Zürcher Tierschutz. Die öffentliche Fütterung ist Teil des Konzepts. «Wir möchten damit Aufklärungsarbeit leisten», sagt Leichts Kollegin Kerstin Imboden. «Fledermäuse haben zu Unrecht noch immer ein schlechtes Image.» Dann klingelt das Not­telefon und die 26-Jährige entschuldigt sich für ein paar Minuten. Es wird nicht das letzte Mal sein an diesem warmen Julitag.

Pro Jahr gehen hier um die 1700 telefonische Hilferufe aus dem ganzen Land ein. Dabei geht es in der Regel um verirrte, erschöpfte, kranke, verletzte oder noch nicht flugfähige Tiere, die gefunden wurden (siehe Tipps rechts). Von diesen kommen jährlich zwischen 250 und 300 in die Notpflegestation im Zoo Zürich, wo sie fachgerecht versorgt werden. «Etwa die Hälfte überlebt nicht», sagt Imboden. «Schwer verletzte Fledermäuse müssen wir gar einschläfern.»

Flugtraining für Flugkünstler
In der Stiftung Fledermausschutz engagieren sich rund 45 Personen. Die meisten ehrenamtlich. Daneben besteht ein schweizweites Netz aus 800 Helfern und 50 weiteren Pflegestationen, die im Notfall Fledermäuse bei sich aufnehmen können. Diesbezüglich meldet sich eine Zoobesucherin. Sie sagt: «Ich habe vor vier Tagen eine Fledermaus gefunden und zu mir genommen. Ich weiss nicht, ob sie überlebt.» Katja Leicht, die gerade ein zweites Weibchen füttert, runzelt die Stirn. Dann erklärt sie der Dame, dass es, auch wenn sie es sicher gut gemeint habe, gemäss der Tierschutzgesetzgebung Laien verboten sei, Wildtiere in Not bei sich aufzunehmen. Dafür brauche es eine Fachausbildung und eine Bewilligung des kantonalen Veterinäramts. Sie hätte also besser gleich angerufen.

An diesem Tag befinden sich sechs Tiere auf der Notpflegestation. Fledermäuse sind sehr soziale Tiere. Sie spenden sich gegenseitig Wärme und verständigen sich mit Lauten, die an Zirpen oder Vogelgezwitscher erinnern. Trotzdem werden sie in den durchschnittlich vier bis fünf Tagen, die sie hier sind, einzeln gehalten. «So können wir den Gesundheitszustand des einzelnen Tieres besser überwachen», sagt Leicht, während sie einer Fledermaus das Maul abwischt. Den staunenden Kindern erklärt sie, dass dies nötig sei, weil sich die Fledermäuse – es sind sehr reinliche Tiere – den Wurmbrei sonst beim Putzen im Fell verteilen würden.

Flugtraining für eine junge Fledermaus mit Kerstin Imboden (Video: René Schulte):

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Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Thema Flugtraining. Tatsächlich sind viele der Patienten Jungtiere, deren erster Flug in einem Absturz geendet hat. Meist deshalb, weil sie die Wochenstube zu früh verlassen haben. Auf der Notpflegestation können die noch etwas unsicheren Tiere das Fliegen üben. Wie das aussieht, demonstriert Kerstin Imboden in einer grossen Aussenvoliere hinter der Notpflegestation. Dafür hat sie zwei Tiere mitgenommen, die nun auf ihrer behandschuhten Hand sitzen. Bis die eine oder andere losfliege, brauche es etwas Geduld. «Zum einen müssen sich die beiden zuerst aufwärmen. Zum anderen haben sie gerade gefressen und vielleicht keine grosse Lust zum Fliegen», sagt sie. Minuten später streckt dann doch eine der beiden plötzlich ein paar Mal ihre filigranen Flügel und ... schwupp!, fliegt auf die andere Seite der Voliere. Immerhin.

Gefahr durch Autos und Katzen
«Fledermäuse fliegen übrigens nicht in Scheiben, wie das bei Vögeln passieren kann», sagt Imboden. Dafür sei ihr Echoortungssystem zu gut. In der Tat wirft jede feste Struktur – also Häuser (inklusive Fensterscheiben), Bäume oder Hecken – ein Echo zurück, anhand dessen sich das Tier ein 3-D-Bild von seiner Umgebung machen kann. Quert eine Fledermaus hingegen eine Strasse, tut sie dies der fehlenden Strukturen wegen im Tiefflug. Was dazu führt, dass Fledermäuse gelegentlich überfahren werden. Auch Katzen sind eine Gefahr. «Wenn Fledermäuse vom Schlafquartier ins Jagdrevier fliegen, nehmen sie oft denselben Weg», sagt Imboden. Entdecke eine Katze diese Route, lege sie sich auf die Lauer und fange ein Tier nach dem andern ab. «Da sich Fledermäuse mit nur einem Jungtier pro Jahr sehr langsam fortpflanzen, kann dies für eine Kolonie fatal sein.»

Was Katzen anrichten können, zeigt Kerstin Imboden an einer Weissrandfledermaus. Das lädierte Männchen hat Löcher in der Flughaut und einen hässlichen Bluterguss am linken Oberarm. «Solche Verletzungen heilen meist aus. Wenn nötig, behandeln wir sie mit Desinfektions- und Schmerzmittel», sagt Imboden. Handle es sich hingegen um einen offenen Bruch oder eine durchtrennte Sehne, bedeute dies das Todesurteil.

Ohne Muskelkraft kopfüber schlafen
Grundsätzlich sind Fledermäuse aber robuste Tiere, die je nach Art über 30 Jahre alt werden können. Wenn sie von Mitte November bis Mitte Februar ihren Winterschlaf halten, kann ihre Körpertemperatur bis auf ein bis zwei Grad absinken. Tiefer geht aber nicht. Daher suchen sich die standorttreuen Tiere möglichst frostfreie Quartiere. In Siedlungsgebieten können das unter anderem Fassadenspalten sein. Jedoch fehlen je länger je mehr solche Rückzugsmöglichkeiten – übrigens auch im Sommer –, da neue oder sanierte Gebäude oft nicht mehr «fledermausfreundlich» sind (siehe Seite 16). Was dazu führt, dass die Notpflegestation immer wieder Tiere überwintern muss.

Haben sie sich nicht gerade querwegs zwischen Holzstücken in eine Scheiterbeige verkrochen, schlafen Fledermäuse meist kopfüber. Ihre Muskeln brauchen sie dafür nicht. Dank einem besonderen Sperrmechanismus im Fuss können sie ihre Zehen einfach einhaken und sich ohne Kraftaufwand wie ein Kleiderbügel hängen lassen. «Stirbt eine Fledermaus in dieser Position, bleibt sie einfach tot hängen», sagt Imboden. Dann klingelt erneut das Nottelefon.