Es ist noch kühl an diesem Morgen im Mai. Die Luftfeuchtigkeit liegt bei 80 Prozent. Sonnenaufgang oder -untergang seien die beste Zeit für die Sichtung, sagt Sri Raj, unser Guide. Wir, eine Gruppe von vier Personen, sind auf dem Weg in ein Naturschutzgebiet nahe Chinnar im südindischen Bundesstaat Kerala. Es liegt etwa drei Autostunden von der Gewürzmetropole Cochin entfernt. Die Strasse schlängelt sich vorbei an Reisfeldern, bevor sie in den üppigen Laubwald der Westghats eintaucht. Wie ein Riegel schiebt sich diese Gebirgskette durch die indischen Bundesstaaten Gujarat, Maharashtra, Goa, Karnataka, Kerala und Tamil Nadu und trennt das Hinterland von der arabischen See. Schroffe und bis zu 1800 Meter hohe Hügel, tropischer Regenwald und Flüsse mit Feuchtgebieten prägen das Bergland und bieten ideale Lebensbedingungen für Wildtiere und Vögel.

Bevor wir loswandern, verstauen wir Sackmesser, Wundpflaster und Bestimmungsbuch in den Jackentaschen unserer naturfarbenen Kleider. Dann folgen wir dem Elefantendung entlang dem Trampelpfad in den Wald. «Quiet», mahnt Sri Raj. «Wer Vögel hören und sehen will, muss still sein.» Im Gegensatz zu den Gefiederten. Dem Lärm nach zu urteilen, sind Hunderttausende in Büschen und Bäumen unterwegs. «Der Vogelruf dient dem Schutz des Reviers, ist aber auch Balzgesang», sagt Rajiv Sugathan, Ornithologe im Vogelschutzgebiet Thattekad in Kerala. 

Vogelwelt in Indien
In Indien leben etwa 1400 verschiedene Vogelarten. Weltweit gesehen liegt der Subkontinent damit irgendwo zwischen den USA mit knapp 900 und Kolumbien mit mehr als 1800 Spezies. «In Kerala gibt es rund 500 verschiedene Vogelarten», sagt der Ornithologe Rajiv Sugathan. Sie leben der vielfältigen Vegetation gemäss im Wald oder in Büschen, sind im Gras- oder Agrarland, in Feucht-gebieten und am Meer unterwegs. Man bekommt von Watt- über Küsten- und Wald- bis hin zu Raubvögeln alles zu sehen.
«Etwa 24 der hiesigen Arten sind in den Westghats endemisch», sagt Rajiv Sugathan. So die seltenen
und nachtaktiven Schaufel- und Maskeneulen. Neben Vögeln wie der Hinduracke, die in ganz Indien unterwegs sind, findet man migrierte Arten wie den kleinen Kuckuck. Die Bengalen-Pitta wiederum brütet am Fusse des Himalajas und überwintert in Südindien. Auf rund 3200 Quadratkilometern verwaltet die Regierung in Kerala 22 geschützte Natur- und Wildparks, darunter fünf Vogelschutzgebiete. Diese Fläche entspricht etwa einem Drittel des Waldgebietes im Bundesstaat, das sich über rund 9400 Quadratkilometer erstreckt.

Mehr als ein Hobby
Über unseren Köpfen schweben wunderschöne, asiatische Paradiesschnäpper. Etwas weiter hinten macht eine Hinduracke ihre Artgenossen mit einem rauen Chack-Chack auf unser Kommen aufmerksam. Auch ein Schwarm orientalischer Brillenvögel ist in den Bäumen unterwegs, während eine Bengalen-Pitta mit einem lauten Pree-Tree ihr Gspänli ruft. Zu unserer Linken turnt ein Frühlingspapagei im Geäst und dreht sich virtuos um die eigene Achse. Eine blaue Steindrossel inspiziert auf einem Ast sitzend die Gegend. Irgendwo hört man einen Specht hämmern. «Das ist ein Weissbauchspecht», sagt Sri Raj. «Sehr selten.»

Menschen wie Sri Raj wachsen mit dem Wissen um die Vogelwelt auf. Sie hören und sehen Dinge, die uns entgehen. Sie erkennen Vögel am Verhalten, an Grösse und Gestalt, an der Färbung des Gefieders und am Gesang. Sie wissen um Aktivität und Zugehörigkeit einer jeden Art. «Wichtig ist ein verantwortungsbewusster Umgang mit der Natur», sagt Manoj N. Narayanan, Hotelier und Wildtierfotograf. Denn in Indien ist Umweltschutz (noch) nicht selbstverständlich. So raten erfahrene Vogelkundler wie Sri Raj davon ab, die Vögel mit Stimmen vom Band anzulocken oder gar Nistplätze freizuschneiden, um die Brut abzulichten. «Das sind massive Eingriffe ins Ökosystem, die verwirrte Vögel und schutzlose Nester zurücklassen.»

Für Manoj N. Narayanan ist Vögelbeobachten nicht nur ein Hobby, sondern eine Passion: «Es macht den Kopf frei und schärft die Sinne, weil nicht nur die Augen, sondern auch die Ohren gefordert sind.» Wer seine Aufmerksamkeit regelmässig auf die Gefiederten richte, werde die Natur bald intensiver wahrnehmen. Und plötzlich stürzt etwas glitzernd-blaues Kleines mit einem scharfen Tieh-Tieh kopfüber in einen Teich. Es ist ein Eisvogel, der nach Fischen jagt. Das sind die Momente, in denen Vogelbeobachter alles um sich herum vergessen.

Bedrohter Lebensraum
In der Gruppe fällt auf, dass Birdwatcher meist männlich und von gemässigtem Temperament sind. Augenfällig sind das Fernglas, das um ihren Hals baumelt, und die grossen Teleobjektive, die sie mit sich tragen. Blitzschnell richten sie diese nach oben, wenn sich ein Objekt der Begierde zeigt. Sie warten, fokussieren und drücken ab. Dann gehen sie weiter auf der Suche nach neuen Motiven. Der niederländische Verhaltensbiologe und Nobelpreisträger Nikolaas Tinbergen sieht im exzessiven Vogelbeobachten einen Ausdruck des männlichen Jagdinstinktes.

Wer an einer mehrstündigen Wanderung durch den Dschungel teilnimmt, bekommt über hundert verschiedene Spezies zu sehen. «Besonders begehrt sind seltene oder schwer zu sichtende Vögel», sagt Sri Raj. Darunter die nachtaktive, fleckige Waldeule, die Nilgiri-Ringeltaube oder das Ceylon-Froschmaul, eine endemische Eulenart, die wegen ihrer braun-grauen Färbung im Wald kaum auszumachen ist.

Moderne Vogelbeobachter sind in Indien gut vernetzt. Sie tauschen sich in Foren via Instagram und Facebook aus, halten sich mit Vogel-Apps und Filmen auf Youtube auf dem Laufenden. Dieses Engagement und die Naturschutzgebiete täuschen allerdings nicht darüber hinweg, dass der Lebensraum der Wildtiere und Vögel immer kleiner wird (siehe Box). «Zum einen setzen die Erderwärmung, der Klimawandel und die Wilderei den Vögeln zu», sagt Renan Mathew Varghese von WWF Indien. «Zum anderen wirkt sich der Massentourismus in den Naturschutzgebieten, mit dem damit einhergehenden Lärm und den Abfallbergen negativ aus», ergänzt der Ornithologe Rajiv Sugathan. Dem begegnen er und die Mitarbeitenden des Vogelschutzgebietes mit Exkursionen, Vorträgen und Broschüren. «Insbesondere Schulkinder sensibilisieren wir für den Schutz der Um- und Vogelwelt.» Dies zwar nicht ohne Erfolg. «Doch setzt die Regierung weiterhin auf wirtschaftlich einträgliche Bereiche wie den Tourismus, lässt sich wenig bewegen.»

Reisetipps: Die Flughäfen in Kerala (Trivandrum, Calicut, Kannur und Cochin) erreicht man mit verschiedenen Airlines ab Zürich, Genf oder Basel mit Zwischenstopps oder Umsteigen. Schweizer benötigen für die Einreise ein Visum (http://in.vfsglobal.ch). In Kerala bieten nachhaltig geführte Resorts und Veranstalter Exkursionen mit erfahrenen Vogelkundlern in den Westghats an.

www.ecotonescamps.com
www.kitesresort.com
www.teamecoventures.com

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