US-Forscher Jeffrey Brawn von der University of Illinois staunte nicht schlecht, als er während einer Vogelzählung eine Indianermeise dabei beobachtete, wie sie einem schlafenden Waschbären keck einige Haare aus dem Fell zupfte und sich mit diesen davonstahl. «Den Waschbären schien es nicht zu stören. Er wachte nicht einmal auf», lässt Brawn in einer Medienmitteilung verlauten.

So ein Waschbäre jedoch hat Zähne und Klauen – und hätte der kleinen Meise durchaus gefährlich werden können. Brawn und seine Kollegen waren ab diesem Verhalten doch sehr erstaunt und machten sich daran, es zu erforschen. Wie sich herausstellte, hatte sich die akademische Welt noch nicht gross damit befasst. In der wissenschaftlichen Literatur wird der Haarklau nur spärlich erwähnt. Der Forschung war das Verhalten unbekannt.

Eine Schwarzhäubchenmeise klaut einem Fuchs die Haare

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Videos auf Youtube
Ganz und gar nicht unbekannt war das freche Haarepicken jedoch ausserhalb der Forschungsblase. Hobby-Ornithologen, Naturfreundinnen und Youtubefilmende kannten es sehr wohl. Auch populärwissenschaftliche Seiten und Zeitungen hatten schon darüber berichtet. «Das Verhalten scheint tatsächlich einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu sein», schreiben Brawn und sein Team im Fachmagazin «Ecology» und liefern dazu gleich die erste wissenschaftliche Auswertung nach.

So fanden sie auf Youtube 99 Videos, in denen Vögel beim Haareklauen ertappt wurden. In 93 Prozent der Videos war der Dieb eine Indianermeise, doch auch Schwarzhäubchenmeisen und Gambelmeisen zeigten das Verhalten, dem die Forscher nun den klingenden Namen Kleptotrichie gaben. Das Wort setzt sich aus den altgriechischen Wörtern für «Diebstahl» und «Haar» zusammen.

Hier reisst eine äusserst abgeklärte Indianermeise einer Frau ein paar Haare aus

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In den Videos klauen die Meisen hauptsächlich Haare von Hunden (im Video ganz oben) und Menschen – ja, Menschen! Aber auch Katzen, Waschbären, Füchse und in einem Fall ein Baumstachelschwein müssen dran glauben. Wie die Forscher allerdings schreiben, fanden sie zusätzlich Hunderte Videos, in denen die Meisen die Haare einfach vom Boden aufpicken. Da stellt sich die Frage, weshalb sie in manchen Fällen das Risiko eingehen, sie lebenden Säugetieren zu entreissen – noch dazu Raubtieren.

Schneller mehr Haare
Die genauen Ursachen der Kleptotrichie wollen die Forscher noch weiter ergründen. Sie vermuten aber, dass diejenigen Meisen, die sie betreiben, so schneller an mehr Haare gelangen können, als wenn sie diese in der Umgebung verstreut zusammensuchen müssen. Die Vögelchen scheinen herausgefunden zu haben, dass es die Beklauten kaum stört, einige Haare weniger im Pelz zu haben. Zumal sie meistens schlafen und den Diebstahl nicht mal bemerken.

Dieser Waschbär scheint sich von der Indianermeise absolut nicht vom Fressen abhalten zu lassen

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In der Familie der Meisen, die 63 in Europa, Asien, Afrika und Nordamerika vorkommende Arten umfasst, braucht die Mehrheit der Arten Haare von Säugetieren, um das Nest auszupolstern. Das Verhalten komme in nördlicheren Breiten öfter vor, wie Brawn und Kollegen analysiert haben. Das bedeute wohl, dass die Haare wohl primär Isolierungszwecken dienen, um die kleinen Meisenbabys warm zu halten. Allerdings nutzen auch Meisen in wärmeren Gefilden Säugerhaare. So könne es auch sein, dass der Geruch von Raubtierhaaren andere Räuber abschrecke, vermuten die Forscher.

Die Meisen in Europa jedenfalls scheinen sich noch nicht so nah an Hunde oder Katzen herangewagt zu haben wie ihre nordamerikanischen Verwandten. Sollte man aber je eine Meise auf seinem Kopf vorfinden, ist nun auch klar, was sie da zu tun gedenkt.