Es ist eine Szene, die zu Herzen geht: Eine Rabenkrähe liegt tot am Strassenrand und wird von einem Artgenossen entdeckt. Schon bald versammeln sich zahlreiche Vögel um den Kadaver und «rufen» weitere herbei, bis schliesslich ein Schwarm über den leblosen Vogelkörper fliegt und unter lautstarkem Gekrächze augenscheinlich Abschied nimmt. Manche Forscher stufen dieses Verhalten zwar nicht als Trauerritual ein, sondern lediglich als Warnung vor drohenden Gefahren, aber an der Empathiefähigkeit von Rabenvögeln ändert diese Deutung nichts.

«Ein gutes Beispiel dafür sind Kolkraben. Sie können sich in andere hineinversetzen», sagt Christoph Vogel, Rabenvogelexperte der Schweizerischen Vogelwarte Sempach. Das zeigen sie eindrücklich, wenn es um das Verstecken von Nahrung geht. Sobald sie von anderen Kolkraben dabei beobachtet werden, ändern sie ihre Pläne und täuschen das Verstecken nur vor. Doch damit nicht genug: Fliegt die «Spionage» auf, schaut der ertappte Beobachter demonstrativ weg und tut so, als würde er sich nicht für das Versteck des anderen interessieren. «Es handelt sich also um ein doppeltes Empathieverhalten», sagt Vogel. «Das können im Tierreich sonst nur Primaten.» 

Geschickt und nachtragend
Auch andere Rabenvögel verblüffen mit ihren Fähigkeiten. Das bekannteste Beispiel für die Intelligenz dieser Tiere lieferte vor ein paar Jahren die Neukaledonische Krähe Betty. Sie schaffte es mithilfe eines Drahtes, an Nahrung in einem engen Glaszylinder zu kommen. Herumstochern mit dem Draht reichte allerdings nicht aus. Deshalb formte Betty mit ihrem Schnabel einen Haken aus dem Draht. Dank des selbst geformten Werkzeuges erreichte sie ihr Ziel und versetzte die Welt ins Staunen.

Eine aktuelle Studie hat zudem gezeigt, dass Rabenvögel über ein erstaunlich gutes Gedächtnis verfügen. Ein einziger Fehltritt genügt, um es sich mit ihnen zu verscherzen. Wissenschaftler der Universität Wien stellten fest, dass Kolkraben in einem Experiment Menschen gemieden haben, die sie bei Tauschgeschäften hintergingen. Im konkreten Fall, ging es darum, Brot gegen von Raben geliebten Käse einzutauschen. Die Vögel liessen sich auf den Handel ein. Verweigerte der Mensch jedoch den Käse, nachdem er das Brot erhalten hatte, merkten sich die Kolkraben die Betrüger, ignorierten sie beim nächsten Mal und wandten sich stattdessen an die Tester, die sich fair verhielten. Dieses Phänomen lässt sich aber auch in der freien Wildbahn beobachten. Nimmt ein Rabenvogel nur, ohne zu geben, gerät er schnell ins Abseits und findet beispielsweise keine Putzpartner mehr für die Gefiederpflege. 

Fast alle Rabenvögel sind nämlich äus­serst soziale Tiere, die in Dauerehe leben, sich gegenseitig unterstützen und sich vorbildlich um ihren Nachwuchs kümmern. Und von wegen Rabeneltern, die gängige Tiermetapher sollte eher revidiert werden! Brütende Rabenkrähen etwa verteidigen ihre Nester vehement gegen Eindringlinge, während nicht brütende Artgenossen sich zu Trupps zusammenschliessen und dann gemeinsam auf Nahrungssuche gehen. Die Jungvögel werden sogar monatelang nach Verlassen des Nestes weiterversorgt.

Verteufelt und vergöttert
Trotz des ausgeprägten Sozialverhaltens und der erstaunlichen kognitiven Fähigkeiten reagieren nicht alle Menschen positiv auf Rabenvögel. Das musste vor allem der Kolkrabe schmerzhaft am eigenen Leib erfahren. Als Schädling und Unheilsbringer verschrien, ist der weltweit grösste Singvogel lange Zeit gnadenlos gejagt worden. Und zwar so konsequent, dass er bis 1940 in weiten Teilen Mitteleuropas verschwunden war. 

Die Gründe für die frühere Hexenjagd liegen für Christoph Vogel unter anderem im Erscheinungsbild und Verhalten: «Raben und Krähen sind gross und schwarz, haben eine raue Stimme, fressen Aas und treten in Schwärmen auf. All das löst bei Menschen Ängste aus.» Ängste, derer sich schon der berühmte Regisseur Alfred Hitchcock in seinem Horrorklassiker «Die Vögel» bediente. Er hält sich in dem Film zunächst an biologische Fakten, lässt dann aber Kolkraben zusammen mit Grossmöwen Menschen attackieren. Das ist zwar völlig aus der Luft gegriffen, verschlechterte das Image des Kolkraben aber zusätzlich.

Der Ursprung der Verteufelung liegt vermutlich in der Bibel. Bereits im Alten Testament wird der Rabe im Gegensatz zur weissen Taube als unrein bezeichnet. Besonders deutlich wird das im Buch Genesis, in dem es heisst, dass ein schwarzer Rabe an ertrunkenem Vieh frisst, während die weisse Taube schon bald einen Ölzweig als Symbol der Versöhnung zu Noahs Arche zurückbringt. 

Andererseits steht im ersten Buch der Könige, dass der Herr zu Elijah sagt: «Ich habe den Raben befohlen, dass sie dir zu essen bringen.» Hier sind die Raben positiv besetzt als Boten Gottes. Auch bei manchen Naturvölkern nehmen sie eine göttliche Rolle ein. Indianerstämme der Pazifikküste Nordamerikas und die Germanen betrachteten den Kolkraben als Attribut der höchsten Gottheit. Von einer solchen Sichtweise sind viele Landwirte weit entfernt. Sie betrachten Rabenvögel als lästige Plage. Für Ernteschäden in der Schweiz zeichnen für sie in erster Linie Raben- und Nebelkrähen verantwortlich. Zahlen der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften aus dem Jahr 2006 belegten jedoch, dass sich die Schäden in Maiskulturen des Kantons Bern gerade einmal zwischen 0,6 und einem Prozent des Gesamtwerts beliefen. 

Ärgernis für Landwirte
Einen allgemeingültigen Wert für die gesamte Schweiz anzugeben ist allerdings schwierig, denn Rückfragen bei Bauern haben ergeben, dass Schäden hauptsächlich dann auftreten, wenn verschiedene nachteilige Faktoren wie späte Aussaat und schlechte Witterung zusammenwirken. Betroffen sind vor allem Mais-, Gemüse- und Getreidefelder. Die Schadenshöhe hängt davon ab, wie lange Saatgut und Schösslinge benötigen, um zu keimen und über eine kritische Höhe (beim Mais 10 bis 15 Zentimeter) hinauszuwachsen. Die Brutvögel richten zur Brutzeit hingegen keine oder kaum messbare Schäden an. 

Trotzdem sind Eichelhäher, Elster, Saat-, Raben- und Nebelkrähe sowie Kolkrabe zur Jagd freigegeben, während Tannenhäher, Alpendohle, Alpenkrähe und Dohle gesamtschweizerisch geschützt sind. Im Durchschnitt werden pro Jahr 13 900 Raben- und Nebelkrähen, 5800 Eichelhäher, 2400 Elstern und 390 Kolkraben erlegt. Von dieser Praxis hält Christoph Vogel nichts. «Mit Abschüssen lassen sich die Bestände insbesondere bei der Raben- und Nebelkrähe nicht nachhaltig regulieren. Werden Brutvögel entfernt, übernehmen geschlechtsreife Vögel aus Nichtbrüterschwärmen die frei gewordenen Brutreviere sofort.»

Lautstarke Saatkrähen
Besser wäre es laut Vogel vorzubeugen, etwa durch die Förderung des Strukturreichtums. Feldgehölze und Hecken am Rande von Ackerflächen bieten Falken und Habichten, den natürlichen Feinden von Rabenvögeln, Deckung. Dadurch könne sich die Sicherheit und damit die Aufenthaltszeit der Rabenvögel auf den Feldern verringern. Zudem sorgt jedes Brutpaar dafür, dass ihr Revier frei von nicht brütetenden Artgenossen bleibt.

Es sind aber nicht nur Landwirte, die sich an Rabenvögeln stören. Einigen Stadtbewohnern ist der Lärmpegel der Kulturfolger ein Dorn im Ohr. Vor allem Saatkrähen, von denen rund 60 Prozent in Städten brüten, sind bekannt für ihre Lautäusserungen. «Beim morgendlichen Anfliegen der Brutkolonie krächzen Saatkrähen zur Begrüssung ihrer Artgenossen und Verwandten deutlich hörbar», sagt Vogel. «Paare erkennen sich an ihren Rufen. Seit Stunden brütende Weibchen rufen heiser und aufgeregt, wenn sie das mit Nahrung anfliegende Männchen hören.» 

Auch hungrige Jungvögel betteln lautstark, wenn ihre Eltern das Nest anfliegen und dann die begehrte Nahrung herauswürgen. Ganz anders tönen die Rufe von Weibchen, die beim Brüten gestört werden. Für die Vielfalt der verschiedenen Laute fehlt jedoch manchen Menschen das Gehör und Verständnis. «Dabei liegen die Werte der Saatkrähenrufe deutlich unter denen des Verkehrslärms», betont Vogel. 

Bei der Diskussion um Massnahmen gegen Störungen und Belästigungen seien Angst, Hass und Vorurteile aber schlechte Ratgeber. Um diese abzubauen, könnte es helfen, Rabenvögel besser kennen- und verstehen zu lernen.