Kurz nach Verlassen des Motubio-Gates schlängelt sich die Strasse hangabwärts Richtung Naivasha. Bäume und Sträucher geben manchmal einen atemberaubenden Blick auf das Rift Valley frei. «Das ist einer der schönsten Orte in Kenia», sagt Samuel Mugo begeistert. Der schlanke junge Mann ist einer der besten Ornithologen Kenias und wuchs beim Aberdare-Nationalpark auf. Der ostafrikanische Grabenbruch zieht sich in zwei tiefen Furchen von Äthiopien kommend durch den Kontinent. Wir blicken in den östlichen Graben, der so weit reicht, dass die gegenüberliegende Seite im Dunst verschwindet. 

Das pulsierende Leben der Stadt Nakuru hinter uns lassend, fahren wir weiter nördlich entlang der berühmten kolonialen Bahnlinie, die Mombasa über Nairobi mit Kampala in Uganda verbindet. Aufgrund des vulkanischen Gesteins ist diese Gegend sehr fruchtbar. «Das sind alles Kikuyus hier», meint der Chauffeur Joseph Mwangi sichtlich stolz, da er sich in seinem Gebiet befindet. Die Kikuyu machen etwa einen Viertel der kenianischen Bevölkerung aus. Allmählich wird das Land hügelig, eine dichte Vegetation löst die Savanne ab. Teeplantagen schmiegen sich an die Hänge. Heftiger Regen verebbt, als wir die Stadt Kapsabet im Gebiet der Nande erreichen. Drei Viertelstunden später sind wir mit unserem Jeep mitten im tropischen Regenwald im Stammesgebiet der Luhjas. Der Kakamega Forest steht heute unter Schutz und ist ein Relikt des zentralafrikanischen Regenwaldes, der einst bis über die östlichen Ufer des Viktoriasees reichte. Entsprechend der Vegetation leben in diesem Regenwald auch Vogelarten, wie man sie normalerweise im Regenwald Zentralafrikas wie etwa im Kongo findet. 

Fast von der Landkarte verschwunden 
Als sich das fahle Morgenlicht durch die Kronenschicht des Regenwaldes stiehlt, Nebel aus dem dumpfen Grün des Waldes aufsteigen und frisches Nass von den Blättern tropft, sind wir schon auf dem roten Waldweg unterwegs – und hören plötzlich melodiöses Pfeifen. Samuel Mugos Gesichtszüge wirken konzentriert, als er durch sein Fernglas blickt, und lösen sich alsbald in einem breiten Lächeln. «Da sind sie, die Graupapageien Kenias!», ruft er erfreut und zeigt auf einen Schwarm von etwa zehn grauen Vögeln, die im diesigen Licht vor grauem Himmel und in grosser Distanz auf einen Baum fliegen. Ihre Pfiffe verraten sie. Tatsächlich, wir haben die Graupapageien Kenias gefunden.

«Vor einigen Jahren war es fast so weit, dass die Graupapageien von der Liste der Vögel Kenias gestrichen wurden», erklärt Mugo. «Doch dank Schutzmassnahmen im Kakamega-Waldreservat vermehrte sich die kleine Restpopulation wieder. Es sind immer noch nur einige Hundert Vögel, doch langsam wächst der Bestand wieder an.» 

Der Schweizer Charles Albert Walter Guggisberg (1913 – 1980), der 1948 nach Kenia kam und während 22 Jahren in einem medizinischen Labor in Nairobi für die kenianische Regierung arbeitete und dabei Feldforschung betrieb, schrieb in seinem 1980 erschienenen zweibändigen Werk «Birds of East Africa», dass der Graupapagei im westlichen Kenia vorkomme. Im Feldführer «Birds of Kenya & Northern Tanzania» (1999) von Dale A. Zimmermann, Donald A. Turner und David J. Pearson wird vermerkt, dass der Graupapagei in Kenia nahezu ausgerottet ist. Jetzt wissen wir, dass er in einer kleinen Population überlebt hat. 

Graupapageien sind auch als Ziervögel beliebt, vor allem wegen ihrer besonderer Sprachfähigkeit. Dieser hier kann sogar Helene-Fischer-Lieder singen:

[EXT 1]

Für Touristen kaum zu sehen
Der Graupapagei ist ein typischer Bewohner des zentralafrikanischen tropischen Regenwaldes. Ein Hauptgrund für das Verschwinden der Graupapageien in der Western-Provinz Kenias ist die Zerstörung von Waldgebieten zur Holznutzung und um Land für die Besiedlung zu gewinnen. Das Gebiet um den Viktoriasee ist sehr bevölkerungsreich. Wilde Graupapageien leben nur in abgeschiedenen Waldgebieten. Entflogene Käfigvögel siedeln sich interessanterweise problemlos in bewohnten Gebieten an, wie etwa in der ugandischen Stadt Kampala am Ufer des Viktoriasees, wo sie im Botanischen Garten oder am Stadtrand auf Bäumen beobachtet werden können. 

Der Graupapagei wird in den Vogelführern für Ostafrika allgemein und Kenia im Besonderen abgebildet. Die meisten Touristen sehen ihn aber nie, da er in seiner Verbreitung auf den Kakamega-Wald beschränkt ist, und genau dorthin führen kaum je organisierte Touren. Der südafrikanische Ornithologe Ian Davidson bestätigt: «Der einzige Ort, wo ich in Kenia Graupapageien beobachtete, war der Kakamega-Wald.» 

Der Wald gibt Einblick in die Flora und Fauna des tropischen, immerfeuchten Zentralafrikas. Der Ornithologe Ben Obanda, der aus der Gegend von Kakamega stammt, erklärt: «In diesem Wald regnet es häufig, am meisten Regen fällt im April und Mai, die kälteste Jahreszeit ist der Januar.» Jetzt ist Anfang Februar, es ist 25 °C warm und der Regen prasselt jeden Nachmittag, manchmal so heftig, dass man keine drei Meter weit sieht, doch der Wald saugt das Wasser auf wie ein Schwamm. 

Obanda verfolgt die Entwicklung der Graupapageien in seiner Heimatregion aufmerksam. Er weiss: «Es gab eine Zeit, da lebten kaum mehr als fünf Paare hier.» Der Regen hat nachgelassen. Plötzlich scheint die Luft auf der Lichtung des Rondo Retreat zu vibrieren; hoch oben saust und sirrt ein Grauwangen­hornvogel durch die letzten Tropfen und landet auf einem dicken, seitlichen Ast. Er blickt vorsichtig um sich und hüpft etwas näher an den Stamm heran. Nun scheint er wie ausgestopft zu verharren, bevor er mit seinem mächtigen Schnabel etwas Essbares durch einen Spalt einer zugemauerten Baumhöhle hält. Sein Weibchen bebrütet ein Gelege oder vielleicht hudert es auch bereits Junge. Es wurde nach Hornvogelmanier zum Schutz in der Höhle eingemauert, nur ein Spalt blieb offen. Während es im Dunkeln sitzt, mausert es sein Gefieder komplett durch und wird vom Männchen versorgt (mehr zu Hornvögeln auf Seite 25). 

Urwaldriesen bieten Nistplätze
Baumhöhlen sind selten. Zum Glück stehen im Kakamega-Wald als Primärurwald noch kapitale Urwaldriesen von Gattungen wie Ficus, Cordia und Spathodea und viele andere, die in Höhlen brütenden Arten wie Graupapageien und Hornvögeln Nistmöglichkeiten bieten. In Sekundärvegetation sind Nisthöhlen kaum vorhanden. 

Nun hallen kehlige, stakkatoartige Rufe durch den nach dem Regenguss jungfräulichen Wald. «Ross-Turakos», flüstert Samuel Mugo. Tatsächlich, das «Rutututu-Tut» kommt von stadttaubengrossen Vögeln mit schillernd tiefblauem Gefieder und roter Haube. Sie hüpfen und flattern durch die Kronenschicht. Ein Trupp einer Meerkatzenart hat sie aufgescheucht. Auch der einmalig schöne Riesenturako stammt aus dem Gebiet. 

Am nächsten Morgen zeigt sich der Doppelzahn-Bartvogel mit seinem roten Gefieder am Rand der Strasse, während Rotkopf­samenknacker im laterithaltigen Sand nach Fressbarem suchen, immer bereit, Deckung zu finden. Der Milchuhu oben auf einem Ast im Schatten des Laubes schliesst seine grossen rosaroten Augenlider am Anfang des neuen Tages. Er hat hier schon viel gesehen, sicher auch die Graupapageien, die auf der Suche nach Samenkapseln die Kronenschicht durchstreiften.

Hier noch ein Beispiel eines besonders redegewandten Graupapageis:

[EXT 2]