Als vor einem Vierteljahrhundert der Eiserne Vorhang fiel, profitierten davon nicht nur Menschen in Ost und West, sondern auch Wildtiere. Zum einen, weil sie Landesgrenzen wieder einfacher passieren konnten, zum anderen, weil der Mauerfall eine Wende für den Artenschutz bedeutete. Es setzte sich die Einsicht durch, dass viele Schutzziele nur durch internationale Zusammenarbeit erreicht werden können. Dass die Lebensräume vieler Tierarten nicht nur landesweit, sondern europaweit vernetzt werden müssen. Dieser Paradigmenwechsel hatte Erfolg: Seit der Jahrtausendwende haben sich die Bestände vieler spektakulärer Tierarten wie Wolf oder Bär in Europa stark erholt.

Doch heutzutage ist das Hochziehen von Grenzzäunen plötzlich wieder im Trend. Diverse europäische Länder haben in den letzten Jahren wegen der Flüchtlingskrise Grenzzäune von zum Teil Hunderten Kilometern Länge errichtet, um Migranten daran zu hindern, unkontrolliert ins Land zu gelangen. Nun hat ein Team von Forschern aus zehn Ländern untersucht, wo und wie viele solcher Zäune in Eurasien gebaut wurden – und welche Auswirkungen dies für Wildtiere hat.

Rothirsche im Stacheldraht
Das Resultat der kürzlich im Fachblatt «PLoS Biology» publizierten Studie: Von der fernen Grenze zwischen China und der Mongolei bis zum Stacheldrahtzaun zwischen Slowenien und Kroatien, mitten in Europa, gibt es 25 000 bis 30 000 Kilometer Drahtzäune und Grenzmauern. «Die meisten wurden in den letzten 15 Jahren errichtet», sagt Studienmitautor Urs Breitenmoser, Leiter der Schweizer Raubtier-Forschungsstelle KORA in Bern.

In Asien hätten einige ehemalige Sowjetrepubliken sogar praktisch ihr gesamtes Territorium eingezäunt. In Europa entstanden die meisten Zäune erst in den letzten ein, zwei Jahren. Als Reaktion auf die Flüchtlingswelle bauten zum Beispiel Österreich, Ungarn, Griechenland, Slowenien, Mazedonien und die Türkei umfangreiche Grenzbefestigungen.

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  Karte: PLoS Biology

«Der unmittelbarste Effekt solcher Zäune für Wildtiere ist, dass sie sich darin verfangen und zugrunde gehen können», sagt Breitenmoser. Slowenien zum Beispiel kündigte im November letzten Jahres an, seine Grenze zu Kroatien auf einer Länge von 349 Kilometern mit einer «temporären physischen Grenze» zu sichern, um die Balkanroute für Flüchtlinge und Schlepper unattraktiver zu machen. Der Zaun besteht aus drei Rollen Nato-Stacheldraht, knapp zwei Meter hoch. In diesen Stacheldrahtrollen würden sich immer wieder Rothirsche verheddern, sagt Breitenmoser. «Wenn sie sich zu befreien versuchen, verarbeiten sie sich praktisch selber zu Hackfleisch – es sind grässliche Bilder.»

Das ist schlimm für das einzelne Tier. Schlimmer für Populationen oder gar Arten ist die Barrierefunktion solcher Zäune. «Mäuse, Marder und andere kleinere Säugetiere können durchschlüpfen, aber für Grossraubtiere oder für grosse Pflanzenfresser sind die Zäune unüberwindbar», sagt Breitenmoser. In Zentralasien würden dadurch zum Beispiel die Wanderungen der Saigaantilope, der Mongolischen Gazelle oder des Asiatischen Wildesels unterbunden. «Die Saigaantilope wandert im Herbst jeweils in südlichere Weidegebiete, um harschen Bedingungen im Winter zu entgehen», erklärt Breitenmoser. «Vielerorts kann sie das wegen der Zäune nicht mehr tun.» Im schlimmsten Fall können so ganze Herden verhungern.

Zerstückelte Wolfsreviere
Langfristig gesehen ist die Zerschneidung der Lebensräume aber auch deshalb ein Problem, weil sich Populationen nicht mehr durchmischen können und dadurch die genetische Vielfalt abnimmt. So weit sei es in Europa noch nicht, sagt Breitenmoser – schliesslich betonten die meisten Staaten, dass es sich bei den Flüchtlingszäunen um temporäre Massnahmen handle. Würden die Zäune aber beibehalten, sei genau jene Strategie der europaweiten Lebensraumvernetzung in Gefahr, die mit dem Fall des Eisernen Vorhangs derartigen Schub bekommen habe.

Der Grenzzaun zwischen Slowenien und Kroatien etwa verläuft zu einem grossen Teil im sogenannten Natura-2000-Gebiet, einem zusammenhängenden, länderübergreifenden Netz von Naturschutzgebieten in ganz Europa. Von zehn oder elf Wolfsrudeln, die momentan in Slowenien leben, haben fünf ihr Revier auf beiden Seiten der slowenisch-kroatischen Grenze. Was die Zerstückelung ihres Lebensraums für sie bedeutet, ist momentan unklar.

Immerhin: Dass solche Grenzzäune in Südosteuropa einen Einfluss auf die Entwicklung der Bestände von Bär, Wolf oder Luchs in der Schweiz haben werden, glaubt Breitenmoser nicht. Sollte das Vorgehen aber Schule machen und zum Beispiel Italien Grenzzäune errichten oder Österreich seine Grenze zu Slowenien abriegeln, könne das auch die Alpenpopulationen von grossen Wildtieren beeinträchtigen, weil der genetische Austausch mit Populationen aus dem Balkan zum Erliegen käme.

In ihrer Studie nehmen die Forscher auch die rechtlichen Grundlagen für den Bau solcher Grenzzäune unter die Lupe. Sie listen diverse internationale Abkommen und Verträge auf, die wohl verletzt worden sind. «Es scheint, dass die europäischen Staaten diese Zäune in einer panischen Notfallsituation errichtet haben», sagt Breitenmoser. Denn eigentlich, so erklärt er, müsste laut europäischen Rechtsgrundlagen zuerst eine Art Umweltverträglichkeitsprüfung vorgenommen werden, bevor die Behörden einen solchen Eingriff in die Landschaft genehmigen dürften. Das sei seines Wissens aber nirgendwo geschehen.

Zum Glück gebe es eine ganze Reihe von Massnahmen, um die schlimmsten Auswirkungen zu mildern. Man könnte zum Beispiel ganz einfach einige Zaunabschnitte in den Zeiten im Jahr öffnen, in denen wandernde Herden Durchgang suchen, sagt der Forscher. Zudem gebe es moderne Methoden, mit denen sich einige offen gelassene Abschnitte im Zaun überwachen liessen. «Kommen Menschen, kann man dann immer noch eingreifen.» Und schliesslich seien auch Zaunarten auf dem Markt, die wenigstens nicht ganz so gefährlich oder gar für einige Arten durchlässig seien, sagt Breitenmoser. «Auf keinen Fall sollte man Stacheldrahtrollen benutzen, das sieht man ganz drastisch am Beispiel der Hirsche in Slowenien.»