Schützenfische sind nur etwa 20 Zentimeter lang und haben eine Ausnahmebegabung: Sie können bis zu vier Meter weit spucken. Auf diese Weise erlegen sie Mücken, Spinnen, Grillen und sogar Eidechsen, die hoch über ihren Köpfen auf Uferpflanzen sitzen – und stellen die Wissenschaft vor Rätsel.

Stefan Schuster – 51 Jahre alt, jugendliches Gesicht, Jeans, Wollpullover, Brille – kennt die silbergrauen Flossentiere mit den schwarzen Rückenstreifen wohl besser als jeder andere Forscher. Seit bald 20 Jahren beschäftigt er sich mit Schützenfischen (Toxotes jaculatrix). Eines stellt der Professor für Tierphysiologie der deutschen Universität Bayreuth gleich am Anfang klar. «Sie spucken nicht – sie schiessen.» Besonders fasziniert ihn das «körpereigene Blasrohr», das sie dazu nutzen. Die Fische wölben ihre Zunge und legen deren Ränder an den Gaumen, dann heben sie ihr Maul aus dem Wasser, öffnen die Lippen und pressen blitzschnell die Kiemendeckel zusammen: Feuer frei!

Heimisch sind sie im Brackwasser tropischer Küstenregionen in Asien und Australien, wo Flüsse und Meer ineinander übergehen. Mit Vorliebe halten sie sich in von Mangroven gesäumten Lagunen auf. Unbemerkt schwimmen sie an ihre Beute heran und knallen sie von schräg unten ab.

Schützenfische in Aktion (Video: BBC):

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Ins Visier gerät alles, was sich lohnt
Schusters Kollege Martin Krause montiert für ein Experiment gerade eine Kamera über einem Becken mit jungen Schützenfischen. Plötzlich zischt ihm ein Wasserstrahl ins Gesicht. Unfassbar schnell. «Passiert ständig», sagt Krause und lächelt. Besonders bei den Jungtieren. Das Unangenehme: Schützenfische zielen bei Menschen gerne auf die Augen. «Sie haben kein starres Beuteschema», sagt Schuster aus sicherer Entfernung, während seinen Kollegen der nächste Strahl im Gesicht trifft. In Experimenten haben die Forscher den Fischen Fotos präsentiert: Auf das Bild einer Mücke spritzen sie – wie erwartet – lieber als zum Beispiel auf ein schwarzes Quadrat. Belohnt man aber Treffer auf dieses abstrakte Bild, indem man Futter ins Becken wirft – und tut dies nicht, wenn die Fische das Mückenbild treffen –, so nehmen sie bald mit Vorliebe das Quadrat aufs Korn. «Es sind clevere Opportunisten», sagt Schuster.

Britische Wissenschaftler untersuchten kürzlich, ob Schützenfische sogar menschliche Gesichter unterscheiden können («Tierwelt Online» berichtete): Zunächst sollten die Tiere auf das Foto eines bestimmten Gesichts feuern, das man ihnen auf einem Monitor zeigte. Jeder Treffer wurde mit Futter belohnt. In einer zweiten Phase präsentierten die Forscher dann immer zwei Gesichter gleichzeitig: das bereits bekannte sowie eines von 44 neuen Gesichtern. Die Fische spritzten auf das vertraute Gesicht. In mehr als 80 Prozent der Fälle.

Schusters Team in Bayreuth hat das Rätsel der Schützenfisch-Spritztechnik entschlüsselt: Diese ermöglicht es den Tieren, Wasserstrahlen zu erzeugen, die bis zu sechs Mal stärker sind als ihre Muskelkraft. Auf seinem Laptop klickt der Forscher eine Video-Datei an: In Zeitlupe ist zu sehen, wie sich ein Wasserstrahl aus einem Fischmaul löst. «Da!», sagt Schuster, drückt auf die Stopp-Taste und zeigt auf den grossen Tropfen, der sich an der Spitze des Strahls gebildet hat. Als er wieder auf «play» drückt, trifft der Tropfen eine Grille wie eine Keule.

Schützenfische treffen immer genau – auch aus verschiedenen Enfernungen (Video: The New York Times):

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Die Fische nutzen ein physikalisches Prinzip, das Wissenschaftler im 18. Jahrhundert erstmals beschrieben haben: Bei gleichem Druck fliesst Wasser durch ein kleines Loch schneller als durch ein grosses. Bei konstantem Kiemendruck wirkt die Öffnung des Fischmauls also wie ein dynamisches Ventil: Das Wasser, das zu Beginn einer Spritz-Sequenz herausgepresst wird, ist langsamer als das später ausgetretene. Wenn dieses unterwegs aufschliesst, bildet sich an der Spitze des Strahls ein schlagkräftiger Tropfen. Weitere Experimente ergaben, dass die Fische ihre Mundbewegung so genau timen können, dass der Tropfen immer unmittelbar vor dem Ziel entsteht, egal, aus welcher Distanz sie schiessen. Ingenieure träumen bereits davon, das Schützenfisch-Prinzip für Löschgeräte und Bewässerungssysteme zu adaptieren.

Zuschauen macht zielsicher
In der Regel schiessen Schützenfische auf ruhende Ziele. Schusters Team aber versuchte, fünf dieser Fische darauf zu trainieren, von einer bestimmten Stelle im Aquarium aus auf eine Fliege zu spritzen, die sich geradlinig rasch über das Becken bewegte. Einer der Fische erwies sich als dominant und liess seine Artgenossen nie an den «Schiessstand». Nach rund 1000 Übungsschüssen traf er die Fliege sehr verlässlich. Später setzte Schuster das Alphatier in ein anderes Becken um, damit auch die vier Fische, die davor zu kurz gekommen waren, üben konnten.

Das Verblüffende: Schon nach 50 Versuchen waren sie genauso zielsicher wie der dominante Artgenosse. «Sie müssen sich diese Fertigkeit also weitgehend durchs Zusehen angeeignet haben», sagt Schuster. «Wir konnten das selbst kaum glauben.» Denn sogar Schimpansen können durch Beobachtung nur sehr schwer lernen, ob sie in einem Experiment zum Beispiel einen Hebel drücken oder daran ziehen müssen, um an Futter zu gelangen.

Nach einem Treffer wartet der Schützenfisch nicht ab, bis die getroffene Beute den Wasserspiegel berührt. Schon im Augenblick des Treffers schätzt er innerhalb einer Zehntelsekunde ab, wo sie aufschlagen wird. Bevor andere Raubfische starten, ist er daher schon am Futtern. Andere Versuche zeigten, dass die Berechnung der Flugbahn der Beute ausschliesslich auf den im Augenblick des Treffers gewonnenen visuellen Eindrücken beruht. «Das kann nicht einmal der Mensch», sagt Schuster. Profifussballer etwa, die tagtäglich ihre Reaktion auf Flanken trainieren, nehmen vor einer Direktabnahme immer wieder Blickkontakt zum Ball auf. 

Entstanden aus einem Husten-Reflex?
Die Frage, wie die Schützenfische zum Schies­sen kamen, ist allerdings noch ungeklärt: Zoologen vermuten, dass die Fähigkeit aus einer Art Husten-Reflex entstand, der es Fischen ermöglicht, Unverdauliches aus der Mundhöhle zu bugsieren. Doch weshalb begannen die Schützenfische, bei der Jagd über ihren Lebensraum hinauszugreifen? Im Brackwasser tropischer Lagunen gibt es ein breites Nahrungsangebot, das für alle Raubfische ausreichen würde. Und Schützenfische sind nicht wählerisch: Sie verzehren kleine Fische ebenso wie Garnelen. Wieso also begannen sie, aus dem Wasser zu spritzen?

Evolutionsforscher gehen davon aus, dass sich Merkmale und Fähigkeiten von Tieren nur ausprägen, wenn sie aufgrund der Lebensumstände zwingend nötig sind: zum Beispiel der lange Hals der Giraffe, um in trockenen Savannen die saftigen Blätter hoher Palmen erreichen zu können. Kreationisten sehen im Schützenfisch, der so brillant schiessen könne, obwohl er das gar nicht brauche, daher ein Argument gegen die Evolutionstheorie – und für einen göttlichen Schöpfer.

Stefan Schuster hält das für überzogen. Die Erfahrung zeige, sagt er, dass junge Schützenfische viel häufiger feuern als betagte. «Wahrscheinlich benötigen diese Tiere, gerade während der Adoleszenz, Nährstoffe, die nur in Insekten vorkommen», sagt er. Und keine Mücke hüpfe freiwillig ins Wasser, um sich fressen zu lassen.