In der Freizeit zieht es die Stadtmenschen zum Mountainbiken oder Trailrunning, zum Spazierengehen oder Wandern in die Natur. Solange die Spaziergänger und Sportler auf den gekennzeichneten Wegen bleiben, ist alles in Ordnung. Das Wild lernt sehr schnell, das menschengemachte Wegnetz zu meiden. In den Bergen wurden vielerorts zusätzlich Wildruhezonen eingerichtet, um Lebensräume der Tiere vor Störungen zu schützen. Alles bestens also, so könnte man meinen.

Allerdings nimmt der Freizeitdruck stark zu und die menschlichen Aktivitäten dehnen sich auch in bisher ruhige Nachtstunden aus. Besonders in Naherholungsgebieten. Genau hier fehlten bisher verlässliche Daten dazu, wie sich die Freizeitnutzung auf Wildtiere auswirkt. Die Zusammenhänge sind lediglich in ländlichen Regionen und Nationalparks gut untersucht. 

Nun hat ein Team um Roland Graf, Leiter der Forschungsgruppe Wildtiermanagement an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW, die Auswirkungen menschlicher Freizeitaktivitäten auf Wildtiere in einem beliebten Naherholungsgebiet im Kanton Zürich untersucht. Im Rahmen der Studie besenderten die Forscher fünfzehn Rehe in der Region des Wildnisparks Sihlwald, zwischen Zimmerberg und Albiskette.Ihr Bewegungsprofil wurde aufgezeichnet. Zugleich wurden Zählstellen eingerichtet, die das Verhalten der Erholung suchenden Menschen erfassten. 

Das Reh verliert Lebensraum
Im Durchschnitt betrug das Streifgebiet eines Rehs knapp vierzig Hektar, wie Gruppenleiter Graf sagt. Bemerkenswert sei, dass Rehe in wenig von Menschen genutzten Gebieten zu allen Tages- und Nachtzeiten aktiver seien. 

Waldstrassen würden grundsätzlich gemieden. «Am Tag meiden die Rehe eine Zone von etwa 25 Metern links und rechts der Waldstrassen, nachts den unmittelbaren Wegbereich von etwa zehn Metern», so Graf. Vor allem Letzteres hat ihn überrascht. «Wir hätten erwartet, dass die Zonen entlang der Strasse nachts von den Rehen eher intensiver besucht werden.» Denn oft wächst am Stras­senrand im Wald eine üppige Strauch- und Krautschicht, weil dort mehr Licht einfällt als  sonstwo im Wald.

Der Bewegungsradius der Tiere wird laut der Studie entsprechend stark eingeschränkt, wenn viele Wege das Gebiet durchkreuzen. Sie verlieren nutzbaren Lebensraum. Parallel wurde das Verhalten von Brutvögeln untersucht. Diese, so zeigte sich, treten in einer Distanz von rund fünfzig Metern zu Waldstrassen deutlich seltener auf als in 150 Metern Abstand.

Vor allem aber zeigte die Untersuchung, dass Rehe in stark von Menschen frequentierten Gebieten ihre Lebensgewohnheiten deutlich verändern. «Tagsüber umfasst ihr Streifgebiet in ruhigen Gegenden im Mittel gut 22 Hektar, in der Nacht etwa 36 Hektar», sagt Graf. «Werden die Rehe häufig gestört, so vergrössert sich ihr Streifgebiet wegen des Fluchtverhaltens auf 44 Hektar während der Tagesstunden und 66 Hektar in der Nacht.» 

Fliehen oder verstecken?
Die Wildtiere liessen sich nicht von allen menschlichen Aktivitäten gleich stark aus der Ruhe bringen. Auf nächtliche Biker-Gruppen, die auf den Wegen blieben und in der Nähe der Rehe vorbeifuhren, reagierten Rehe in der Regel mit kurzen Fluchten. Zehn Minuten später war ihr Bewegungsmuster wieder wie vorher, jedoch nicht an dem Ort, den sie sich vorher für die Nahrungssuche gewählt hatten. 

Menschen abseits der Wege verursachten deutlich weitere Fluchtstrecken. Wobei die Tiere unterschiedlich reagierten. Manche drückten sich tief in dichte Vegetation, andere flohen bis zu einem Kilometer weit. Tendenziell blieben die Tiere nach einer Störung längere Zeit in der Nähe eines Dickichts, um im Fall des Falles schnell wieder Unterschlupf zu finden.

Laut Graf bedeuten die Ergebnisse nicht, dass die Rehe aus dem viel genutzten Naherholungsgebiet vertrieben werden. Aber es sei möglich, dass sich dabei ein erhöhter Stresshormonlevel messen liesse. «Dies kann in der Theorie für höhere Anfälligkeit und weniger Jungtiere sorgen. Langfristig können die Störungen so zum Rückgang einer Population führen.» Das sei beim gefährdeten Auerhuhn selbstverständlich deutlich relevanter als beim Reh. «Das Reh wird deswegen nicht aus dem Mittelland verschwinden.» Anders sehe es in den Berggebieten aus: «Dort kann es in harten Wintern den Tod bedeuten, wenn die Tiere gestört werden und dadurch Energiereserven verlieren.» 

Förster und Wissenschaftler diskutieren wegen des zunehmenden Drucks der Erholungsuchenden auf die Waldgebiete bereits, ob Wildruhezonen nicht auch an besonders stark frequentierten Regionen des Mittellandes denkbar seien. «Nach den Ergebnissen unserer Untersuchung finden wir den Gedanken durchaus gerechtfertigt», sagt Graf dazu. «Vor allem sollte sich die Gesellschaft überlegen, ob die teilweise enorm dichte Erschlies­sung notwendig und zeitgemäss ist.» Denn wenn nicht zwingend benötigte Waldwege aufgehoben werden, reduzieren sich die Unterhaltskosten und der Lebensraum für Wildtiere nimmt zu.

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