Sind Menschen in ihrem Alltag konstantem Stress ausgesetzt, kann es passieren, dass sie im schlimmsten Fall ein Burn-out trifft. Wie Asia Murphy von der US-amerikanischen Penn State University gemäss einer Medienmitteilung sagt, können solche Symptome auch bei Beutetieren auftreten. «Und das kann man gut nachvollziehen», erklärt die Doktorandin, «weniger als die Hälfte aller Weisswedelhirsch-Kälber erlebt ihren ersten Geburtstag.» Räuber wie Kojote, Schwarzbär oder Rotluchs haben es auf sie abgesehen. «Die Jungtiere wissen instinktiv, dass sie sich dauernd in Gefahr befinden», sagt Murphy, welche die Ergebnisse ihrer Untersuchungen kürzlich im «Journal of Animal Ecology» publizierte.

Leben die Hirsche in relativ unberührten Waldhabitaten sind sie deshalb wachsam. Bei Gefahr schauen sie auf, spitzen die Ohren. Leben sie aber in Wäldern, in denen sich oft Menschen tummeln und die von Siedlungen umgeben sind, erhöht dies ihren Stress massiv. Auch wenn die Menschen ihnen ja meist freundlich gesonnen sind und den Tieren helfen würden, wenn sie könnten – einem Weisswedelhirsch-Kalb ist dies natürlich nicht bewusst.

Fotofallenbilder ausgewertet
«Die Anwesenheit von Menschen schafft eine Umwelt, in der die Gefahr so gross scheint, dass die Hirsche aufhören, wachsam zu sein», sagt Murphy, die zu dieser Schlussfolgerung anhand der Auswertung von über 10’000 Fotofallenbildern gekommen ist. Ihre Resultate seien für die Forscherin überraschend gewesen. Bei so viel wahrgenommener Bedrohung von so vielen Seiten, scheine es so, als seien die Hirsche ganz entspannt. Als sähen sie sowieso keinen Sinn darin, bereit zu sein, sich zu verstecken oder zu fliehen. «Es ist, als würde sie der konstante Stress völlig ausbrennen.» Dabei haben gerade dort, wo sich auch Menschen im Wald aufhalten, die Hirsche weniger Ausweichmöglichkeiten und treffen daher öfter auf Raubtiere. Sie sollten daher eigentlich extra aufmerksam sein.

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Natürlich könnte es auch sein, dass die Hirsche sich einfach an die Präsenz des Menschen gewöhnt haben und deshalb weniger Angst haben und auch weniger aufmerksam seien. Dies schreibt zum Beispiel auch ein anderes Forschungsteam aus den USA, das im Jahr 2016 im «Journal of Zoology» zu ähnlichen Befunden wie Murphy gekommen ist. In dieser Studie zeigten die Weisswedelhirsche zudem im Herbst erhöhtes Wachsamkeitsverhalten und zwar unabhängig davon, ob die Population in einer Gegend mit Jägern lebte oder nicht. Die Autoren dieser Studie schrieben deshalb, dass auch andere Faktoren wie zum Beispiel die Tatsache, dass im Herbst Paarungszeit ist, auf die Wachsamkeit einwirken könnten.

Hormonelle Untersuchungen könnten Klarheit bringen
Wie es nun wirklich ist – ob die Hirsche vor lauter Stress und Erschöpfung den Kopf nicht mehr heben oder ob sie tatsächlich weniger Angst vor uns Menschen haben, darüber würden hormonelle Untersuchungen, zum Beispiel der Stresshormone Cortisol oder Adrenalin, wohl mehr Aufschluss geben.