Der Wanderfalke mit dem gebrochenen Flügel kauert ganz hinten in der Ecke, als Martin Wehrle die schwere Metalltür aufschiebt. Nur einen Spalt weit, damit er hineinschlüpfen kann. In der absoluten Stille der Quarantänestation wirkt das Knarren der Schiebetür ohrenbetäubend. Der Tierarzt und Kurator des Tierparks Goldau macht ein paar vorsichtige Schritte durch die Betonzelle, eng an die glatte Rückwand gepresst, damit er den Vogel so wenig stresst wie möglich.

Um den Wanderfalken geht es heute nicht, sondern um das Tier, das im Raum dahinter zu sehen ist. Wehrle schiebt die nächste Metalltür auf, betritt einen leeren Raum und zeigt auf ein kleines, offenes Schiebefenster. Dahinter ist ein weiteres dieser sterilen Betonzimmerchen zu erkennen, diesmal aber eingerichtet mit ein paar kreuz und quer angeordneten Baumstämmen. Nadelige Äste hängen ins begrenzte Sichtfeld hinein, verdecken den Blick auf das Luchsweibchen, das ganz hinten, auf einem Podest, kauert. 

Nächtliche Ausbruchversuche
«Tagsüber liegt sie immer hier oben», wird Wehrle sagen, nachdem er die Ruhezone der Quarantänestation hinter sich gelassen hat. Während der paar Sekunden in der Zelle herrscht Stille – und ein intensiver Blickkontakt zwischen Mensch und Luchs. Die Wildkatze hat ihre Augen starr auf die Besucher fixiert. Jede Störung bedeutet Stress für sie. Nicht zuletzt deshalb hat das Bundesamt für Umwelt (Bafu) hier ein striktes Fotoverbot für die Medien verhängt.

Die sechsjährige Luchsin in Goldau ist Staatssache. Eingefangen wurde sie vor rund zehn Tagen im Kanton St. Gallen – im Auftrag des Bafu und in Zusammenarbeit mit der Grossraubtier-Koordinationsstelle Kora. Nach einem ersten medizinischen Check und den nötigen Impfungen wurde sie hierher, nach Goldau, gebracht. In die temporäre Obhut von Martin Wehrle. «In den ersten paar Tagen war sie sehr gestresst», sagt der Tierarzt. «Nachts ging jeweils ziemlich die Post ab.» Das Luchsweibchen habe immer wieder versucht, aus dem Gehege auszubrechen: «Gerade bei den Türen, wo es Spälte hat, hatte sie das Gefühl, sie komme raus und fing an, sich zu verbeissen.» Deshalb hat Wehrles Team Holzverschalungen an die Türen montiert, wie er erklärt: «Wenn sie schon irgendwo reinbeisst, soll es Holz sein und nicht Metall oder Beton, das ihr die Zähne kaputtmacht.»

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Luchsin Jara springt in die Freiheit
  Bild: Cornelia Arens KLICKFaszination / SNU RLP

Ein stabiler Bestand
Während der letzten zehn Tage war es Wehrles Job, die Luchsin zu beobachten. Von blos-sem Auge, durch das Fensterchen in der Zelle, aber auch per Videoüberwachung. Zu schauen, ob sie frisst und trinkt, wo sie ihr Geschäft verrichtet. «Eigentlich wollte ich ihr noch Kotproben nehmen, aber das musste ich sein lassen, weil sie zu nervös war.» Nun hat Wehrle grünes Licht für die Freilassung gegeben. Die Zeit in der Quarantäne neigt sich für das Luchsweibchen dem Ende zu, sie hat keine ansteckenden Krankheiten und ist bereit, wieder zu ihren Artgenossen in den Wald zu kommen. Genauer: In den Pfälzerwald nahe der deutsch-französischen Grenze, etwa fünf Autostunden nördlich von Goldau. Dazu wird die Wildkatze per Blasrohr narkotisiert und per Auto in ihr neues Revier verfrachtet.

Ein Luchs wird in der Schweiz eingefangen und im Ausland wieder freigelassen. Das hätte sich vor fünfzig Jahren kaum jemand erträumt. Damals war der Luchs aus seiner einstigen Heimat im Alpenraum restlos verschwunden, die Schweiz war in der entgegengesetzten Rolle: Abnehmerin statt Lieferantin. 

Heute hat sich der Luchsbestand in der Schweiz so weit etabliert, dass es möglich ist, auf das eine oder andere Tier zu verzichten. Laut dem Bafu ist dies aber keineswegs flächendeckend der Fall. Geschätzte 300 Tiere leben laut dem Bundesamt in der Schweiz – 200 in den Voralpen und Alpen, rund 100 im Jura. Dies sei ein stabiler Bestand. Mirjam Pewsner, Tierärztin und Luchs-Verantwortliche beim Bafu, sagt: «In vielen Gebieten ist die Dichte, die für das längerfristige Überleben der Luchspopulation nötig ist, gegeben.» Aber sie fügt an: «Das Lebensraumpotenzial des Luchses ist noch nicht vollständig ausgeschöpft.» Heisst: Vielerorts geht es dem Luchs gut, aber stellenweise fehlt er noch. Etwa im Tessin und in Graubünden, wo er bislang nur sporadisch aufgetaucht ist.

Halbzeit in der Wiederansiedlung
Am Tag nach dem Besuch auf der Quarantänestation in Goldau ist das Luchsweibchen  bereits wieder in der Natur. Und es trägt plötzlich einen Namen, nachdem Martin Wehrle stets nur von der «Luchsin» gesprochen hatte: «Wir hoffen, dass Jara einen Beitrag zur Etablierung des neuen Luchsvorkommens im Biosphärenreservat leisten kann», heisst es in einer Pressemitteilung der Stiftung Natur und Umwelt aus dem Deutschen Bundesland Rheinland-Pfalz. Dazu ein Bild von der Luchsin; ausgerüstet mit Senderhalsband nimmt Jara einen Satz durchs Gras, hinein in ihren neuen Lebensraum, den Pfälzerwald.

Noch bis 2020 soll das Wiederansiedlungsprojekt dort laufen. Bis dann sollen insgesamt je zehn Luchse aus der Schweiz und der Slowakei ausgesetzt werden. Aktuell ist etwa Halbzeit, Jara ist der sechste Luchs aus der Schweiz. Die Verantwortlichen ziehen eine positive Zwischenbilanz: Eine der freigelassenen Luchsinnen hat sich in ihrer neuen Heimat schon wieder vermehrt – gleich in ihrer ersten Paarungszeit («Tierwelt Online» berichtete). «Diese Reproduktion war ein guter Anfang», sagt Julian Sandrini von der Stiftung Natur und Umwelt. Ob sich die Luchse dauerhaft etablieren können, kann er aber noch nicht sagen. «Wir stehen kurz vor der nächsten Wurfzeit und können noch keine Prognose abgeben.»

Die Verantwortlichen in Deutschland haben mit denselben Problemen zu kämpfen, wie sie auch aus der Schweiz bekannt sind: Der Luchs wird nicht von allen gleichermas­sen akzeptiert. Oder zumindest seine aktive Wiederansiedlung nicht. Hierzulande etwa schreibt der Schweizer Jägerverband in einer offiziellen Stellungnahme zum Luchs: «JagdSchweiz ist nicht gegen das Vorkommen von Luchs, Wolf und Bär in der Schweiz, sofern die Tiere auf natürliche Weise einwandern. Das Einfangen und Wiederaussetzen dagegen lehnt JagdSchweiz grundsätzlich ab.»

Auch in Deutschland sei, so Sandrini, diese Maxime jahrzehntelang gepflegt worden. «Nun wurde aber erkannt, dass der Luchs kurz- oder mittelfristig nicht von alleine kommen wird.» Also habe man sich daran gemacht, die Idee der aktiven Wiederansiedlung salonfähig zu machen. 

Im Pfälzerwald befinden sich die Luchse also in der Situation, in der sich ihre Schweizer Artgenossen vor dreissig Jahren befanden. Läuft alles nach Plan, wird sich der Luchs auch bei unseren nördlichen Nachbarn etablieren. Platz dafür hat er, mehr als in der Schweiz.

Der Luchs kann sich ausbreiten
«Der Pfälzerwald ist ein wenig zerschnittener Lebensraum, weswegen er sich für die Wiederansiedlung besonders gut eignet», sagt Julian Sandrini. Der Luchs könne sich in mehrere Richtungen ausbreiten, sowohl ins Landesinnere, in den Westerwald und in die Eifel, als auch über die Grenze in die Vogesen und in den Jura – wo er vielleicht dereinst mit seinen Schweizer Ahnen zusammentrifft.

Bei Martin Wehrle im Tierpark Goldau werden dieses Jahr keine Luchse mehr landen. Die Fangzeit ist vorüber, jetzt sind die Tiere in den Schweizer Wäldern in Paarungslaune, wobei sie nicht gestört werden sollen. Bis sie wieder zum vorübergehenden Luchshabitat wird, ist die Quarantänestation für Wanderfalken mit gebrochenen Flügeln und andere Tiere reserviert.

Luchse gibt es in Goldau dennoch zu sehen: Ein in Gefangenschaft geborenes Pärchen verbringt seine Tage seit Jahren faul auf Baumstämmen liegend in seinem Tierpark-Gehege. Ohne jede Scheu ignorieren die beiden Wildkatzen Kindergeschrei und Kamerageklicke. Bei ihnen ist fotografieren erlaubt.