Der Saurier bewegt sich nicht. Wie ein angeschwemmtes Fossil liegt die Echse am Flussufer und lässt sich die Nachmittagssonne auf den gepanzerten Rücken scheinen. Langsam nähert sich das Boot dem sonderbaren Reptil mit der lang gezogenen Schnauze. «Nur wenige Menschen bekommen heute noch einen Gavial in seinem natürlichen Lebensraum zu sehen», flüstert Arjun Tamang beinahe andächtig. Durch sein Fernglas beobachtet der junge Guide das dösende Urkrokodil. Mit seinen über hundert Zähnen, die wie ein Reissverschluss aus spitzen Dornen aus Ober- und Unterkiefer ragen, sieht es wahrhaft prähistorisch aus. Gangesgaviale haben mehr Zähne als jede andere noch lebende Krokodilart. 

Der Bootsführer steuert den Kahn mit seiner Bambusstange näher an die Sandbank, aber die Strömung treibt ihn flussabwärts. «Gaviale gehören zu den ältesten Tierfamilien und sind nur entfernt mit anderen Krokodilen verwandt», erklärt Tamang, während sein Boot weiter den Rapti-Fluss in Nepals Chitwan-Nationalpark hinunterschippert. Und die Tiere gehören zu den seltensten Reptilien der Welt. «Wir haben heute nur noch 198 wilde Gaviale in Nepal», sagt Tamang, «das sind weit weniger, als uns Nashörner geblieben sind. Nur interessieren sich viel weniger Menschen für Reptilien als für Säugetiere.»

Keine Angst vor dem Gavial
Laut der Weltnaturschutzunion ist die Zahl der Gangesgaviale seit der Mitte des 20. Jahrhunderts bis zu 98 Prozent zurückgegangen. Damit gehören sie zu den bedrohtesten Tieren Südasiens überhaupt. Einst waren sie in vielen Flüssen von Pakistan bis Myanmar verbreitet. Heute kann man sie fast nur noch hier und in einigen wenigen anderen Schutzgebieten in Nepal und Indien beobachten.

Durch den Dschungel im Chitwan-Nationalpark streifen neben den Gavialen und den Panzernashörnern noch immer wilde Elefanten, Leoparden, Rothunde, Lippenbären und Gaure, die grössten Wildrinder der Erde. 68 Säugetierarten, 49 Amphibien und Reptilien, sowie etwa 650 Vogelarten haben Zoologen im Park verzeichnet, mehr als in jedem anderen Naturraum des Landes. Mit 932 Quadratkilometern ist der Nationalpark etwas kleiner als der Kanton Thurgau. Zusammen mit dem im Osten angrenzenden Parsa-Nationalpark und dem Valmiki-Tigerreservat jenseits der indischen Grenze ist Chitwan allerdings Teil eines weiträumigeren Schutzgebiets.

Tamangs Boot gleitet vorbei an dichtem Urwald. Kormorane, Flusskiebitze und Rostgänse tummeln sich auf dem  schmalen Uferstreifen. Smaragdfarben schillernde Bienenfresser segeln durch die Luft und eine Schlangenweihe späht von einem abgestorbenen Baum nach Beute. Auf einer Sandbank liegen zwei fette Sumpfkrokodile. Die entfernten Verwandten der Gaviale erreichen zwar nicht deren Länge, furchteinflössend sehen aber auch sie aus. «Als ich 10 oder 11 war, wurde ein Nachbarjunge von einem Sumpfkrokodil angefallen», erzählt Tamang. «Ein Freund schlug mit einem Stock auf das Tier ein, bis es von ihm abliess. Der Junge kam mit einem zerfetzten Bein davon.»

Der 25-Jährige Arjun Tamang ist in einem Dorf am Rand des Nationalparks aufgewachsen. Seine Familie zog in den 70er-Jahren aus dem Himalaja in den Süden. Neues Ackerland durch trockengelegte Sümpfe und die fast ausgerottete Malaria versprachen ein besseres Leben als in den Bergen. «Als Kinder lernten wir, beim Spielen am Fluss immer nach den Sumpfkrokodilen Ausschau zu halten», sagt Tamang. «Neben den Gavialen konnten wir sorglos schwimmen. Manchmal machten wir uns einen Spass daraus, sie von ihren Sandbänken zu verscheuchen.» Auf dem Speiseplan der Gangesgaviale stehen vor allem Fische. Für den Menschen sind sie nicht gefährlich. Dennoch hat dieser das lebende Fossil innerhalb weniger Jahrzehnte an den Rand der Ausrottung gebracht.

«Die Zerstörung der Lebensräume, die Verschmutzung der Flüsse und die Überfischung haben dem Gavial so zugesetzt», sagt Bed Bahadur Khadka. Der Nepalese ist Herr über 600 Krokodilkinder im Gavialzentrum von Chitwan. Hier werden von Zerstörung bedrohte Gelege ausgebrütet und die Nestlinge bis zu ihrer Freilassung in die Flüsse der  Nationalparks aufgezogen. Der Grösse nach getrennt werden sie in flachen Becken gehalten, bis sie etwa eineinhalb bis zwei Meter lang sind und damit sicher vor den meisten Fressfeinden.

Staudämme als Hindernis
«Wir haben seit 1978 mehr als 1200 Gaviale im Rapti, Narayani und anderen Flüssen ausgesetzt», erklärt Khadka, «aber etwa 75 Prozent verlieren wir flussabwärts nach Indien.» Die meisten der während der Monsunregen über die Grenze geschwemmten Tiere kehren nie wieder an ihren Geburtsort zurück, weil Staudämme für sie zum unüberwindbaren Hindernis werden. «Manchmal schicken uns indische Kollegen Fotos von ihnen», sagt Khadka, «aber dort gibt es kaum noch geeignete Lebensräume.»

Der Verlust naturnaher Flussabschnitte macht auch anderen Arten zu schaffen. Vom Gangesdelfin, der einst in vielen Flüssen im südlichen Nepal verbreitet war, werden heute nur noch vereinzelte Sichtungen dokumentiert. Unter der weiter fortschreitenden Zerstörung von Feuchtgebieten in Südasien leidet auch die Fischkatze, ein fast luchsgrosser Räuber, der in Flussauen und Sümpfen jagt. Erst vor wenigen Wochen hüpfte in Chitwan ein junges Borstenkaninchen in eine Fotofalle. Der struppige Kleinsäuger war seit 1984 nicht mehr gesichtet worden. Wissenschaftler hoffen nun, dass der Erhalt des natürlichen Schwemmlands im Park der bereits totgeglaubten Art das Überleben sichern wird.

Tamangs Boot ist an der Mündung des Rapti angekommen. Über dem Narayani geht der orangerote Ball der Sonne unter und wirft ein rubinfarben glitzerndes Band in die Strömung. «Von hier aus kann man an klaren Tagen die schneebedeckten Gipfel des Himalaja sehen», sagt Tamang. Er selbst hat noch nie Schnee berührt. «So viele Touristen kommen allein wegen des Mount Everest und der Achttausender nach Nepal», sagt der Guide, «aber eigentlich ist eine Reise ohne einen Besuch in Chitwan nicht komplett.»