In der Küchenschublade wird Roger Aeberhard fündig. Er zieht eine Grillzange hervor und greift sich damit das präparierte Schnapsgläschen. Funktioniert. Improvisation muss heute sein, denn Aeberhard will Schlangen melken. Kein alltägliches Unterfangen, auch nicht für einen Halter von mehr als hundert Giftschlangen. «Ich habe bisher zweimal Studenten für ihre Masterarbeiten Gift zur Verfügung gestellt», sagt Aeberhard. 

Heute wird er zu Hause in Eschlikon TG einigen seiner Afrikanischen Buschvipern (Atheris squamigera) Gift entnehmen. «Zu oft sollte man das nicht machen, denn es bedeutet doch einen gewissen Stress für die Tiere», sagt der Schlangenhalter. Er selber ist allerdings auch neugierig, wie viel Gift er seinen Vipern entnehmen kann.

Schlangenmelken ist in der Schweiz nicht lukrativ. Deshalb wird es hierzulande auch kaum gemacht. Ganz anders in Brasilien, wo Schlangenfarmen mit Tausenden von Schlangen derselben Art existieren. «Dort herrscht schon das richtige Klima», sagt Aeberhard. Und auch die Arbeitskräfte sind erschwinglicher als in der Schweiz. Denn Schlangengift findet durchaus seine Verwendung. Vor allem zur Herstellung von Serum, von Gegengift, mit dem Bissopfern das Leben gerettet werden kann. Schlangengift kann aber auch im Operationssaal Leben retten. 

Zwischen 80 000 und 140 000 Menschen sterben weltweit jedes Jahr durch Schlangenbisse. Geschätzte fünf Millionen Menschen werden jährlich von einer Schlange gebissen. Das sind Zahlen der Weltgesundheitsorganisation WHO. Erschreckende Zahlen, die zeigen, dass mit Giftschlangen nicht zu spassen ist. Vor allem nicht in Afrika und Südostasien, denn dort passieren mit Abstand die meisten Vergiftungen durch Schlangenbisse. 

Nagetiere locken Schlangen an
Zum Vergleich: In der Schweiz ist nach Auskunft der Gift-Informationsstelle Tox Info Suisse seit mehr als fünfzig Jahren kein Mensch mehr an einem Schlangenbiss gestorben. Natürlich ist die Schweiz nicht gerade ein Schlangen-Hotspot, aber auch in Australien, wo einige der giftigsten Schlangen beheimatet sind, beschränken sich die Todesfälle auf höchstens eine Handvoll pro Jahr. Eine 13-Jahres-Studie hat ergeben, dass von rund 6000 Bissopfern, die dort ins Spital eingeliefert wurden, gerade einmal 27 ihren Schlangenbissen erlagen.

«In Australien leben die giftigsten Schlangen im Outback, wo es nur wenige Menschen hat», begründet Roger Aeberhard und erklärt weiter, wie diese Zahlen zustande kommen dürften: «Unfälle mit Schlangen gibt es vor allem dort, wo ihnen Menschen den Lebensraum wegnehmen.» In Wüstenregionen wie dem australischen Outback sei das kein Problem. «Da will niemand leben.» 

Aber in den Regenwäldern Afrikas, Lateinamerikas oder Südostasiens, «da wird alles abgeholzt, Plantagen werden aufgebaut. Und wo es Plantagen gibt, da sind auch viele Nagetiere.» Und Ratten, Mäuse und Ähnliches ziehen wiederum Schlangen an. Unfälle mit Giftschlangen sind da programmiert. Dazu kommt, dass diese Gebiete oft fernab der nächsten Spitäler liegen. «Wären diese Menschen innerhalb einer halben Stunde im Spital und bekämen ein Serum, würden die auch alle überleben.»

Roger Aeberhard hat Verstärkung erhalten. Partnerin Fabia Kaufmann hat auf dem Stubentisch eine dicke Schaumstoffmatte ausgelegt. Grillzange und Schnapsgläser sind drapiert. Letztere sind mit einer dünnen Folie überzogen – in sie sollen die Schlangen nun ihre Giftzähne schlagen. Ein Schlangenzüchterkollege von Aeberhard will sich die Gelegenheit ebenfalls nicht entgehen lassen, beim Giftmelken dabei zu sein. 

Die Schlange ist zickig
Mit zwei Metallhaken angelt sich Aeberhard eine der Buschvipern aus ihrem Terrarium – keine einfache Angelegenheit, zumal sich das Tier in der reich mit Kunstpflanzen begrünten Urwaldlandschaft versteckt. In einer Transportbox aus Plastik trägt er die Schlange in die Stube und befördert sie mithilfe der Haken auf den Schaumstoff. 

Die Schlange, ein gelbbraunes Weibchen, ist etwas «zickig», wie Aeberhard feststellt. Sie reisst ihr Maul auf, schnellt nach vorne, ein Scheinangriff. Sie schnellt nach oben, noch einer. Aber sie beruhigt sich rasch genug, dass Aeberhard ihren Kopf mit dem Haken auf die Schaumstoffmatte drücken kann. Gesprochen wird nun nicht mehr viel, alle wissen: Jetzt ist volle Konzentration gefragt, eine Unachtsamkeit verträgt es hier nicht.

Das Gegengift
Antivenine haben schon manch einem Menschen das Leben gerettet. Hergestellt werden diese Seren aus dem Gift der Schlange selber. Dazu wird Pferden oder Schafen eine ganz kleine Menge Gift verabreicht – gerade gross genug, dass das Immunsystem des Tiers Antikörper dagegen herstellt. Diese Antikörper werden nun aus dem Blutplasma des Tiers gefiltert und in möglichst reiner Form dem Bissopfer verabreicht, in dessen Körper sie die Giftbestandteile neutralisieren. Das Gift jeder Schlange besteht aus unterschied-lichen Komponenten, deshalb gibt es nicht «ein» Antivenin gegen alle Bisse. Wohl aber sind Gegengifte auf dem Markt, mit denen sich etwa Bisse von allen europäischen Vipernarten behandeln lassen.

Ein Schlangenbiss ist nicht einfach ein Schlangenbiss. Mehr als 700 verschiedene Arten von Giftschlangen sind bekannt und jede von ihnen hat ihren ganz eigenen Giftcocktail. Proteine, Eiweisse sind es, die in vielen verschiedenen Ausprägungen auf Gewebe, Kreislauf und Nervensystem von Bissopfern wirken. 

Aeberhards Buschviper zum Beispiel hat ein Gift, das in erster Linie hämotoxisch wirkt. Es zerstört Blutzellen und Gewebe. Das gilt übrigens auch für die beiden in der Schweiz heimischen Giftschlangen, die Kreuzotter (Vipera berus) und die Aspisviper (Vipera aspis) (erfahren Sie hier mehr über die Schweizer Giftschlangen). Doch neben der hämotoxischen Wirkung  hat das Proteingemisch der Buschviper noch andere Bestandteile. Solche, die eine Blutgerinnung verhindern etwa. Oder auch solche, die das Nervensystem des Opfers lähmen.

Neurotoxine heissen diese Nervengifte, die viele Giftnattern wie Kobras oder Mambas so gefährlich machen. Der Inlandtaipan (Oxyuranus microlepidotus) beispielsweise gilt als giftigste Schlange der Welt. Sie ist im australischen Outback beheimatet. Die rund zwei Meter lange Schlange ist scheu, flieht sofort, wenn sich Gefahr nähert. Wenn aber keine Flucht mehr möglich ist, dann beisst sie zu. Blitzschnell lässt sie ihren Kopf nach vorne schnellen, schlägt ihre beiden unbeweglichen, gefurchten Giftzähne, rund einen halben Zentimeter lang, in das Fleisch ihres Opfers und spritzt ihr Gift in die Wunde.

Normalerweise sind die Opfer des Inlandtaipans Ratten und Mäuse. Das Gift ihres Bisses ist aber so stark, dass es ausreichen würde, mehr als 200 erwachsene Menschen zu töten. 

Die Afrikanische Buschviper, die auf Aeber-hards Stubentisch liegt, hat einen etwas anderen Giftapparat. Ihre Zähne sind hohle, ausklappbare Röhrchen. Im Ruhezustand liegen sie am Oberkiefer an. Nun hat er das Weibchen vorsichtig am Kopfansatz gepackt und führt es zum Gläschen, das Partnerin Kaufmann mit der Grillzange festhält. Ein, zwei Sekunden geschieht nichts. Die Schlange will nicht zuschnappen. Aeberhard stupst sie sanft an den Glasrand, nun, zack, klappt die Buschviper ihre Zähne nach vorne und lässt sie durch die dünne Folie stechen. 

Schlangenmelken lohnt sich nicht
Sofort spritzt ein dünner Strahl aus dem Zahn ins Gläschen. Kaufmann strahlt. «Es klappt!» Aeberhard massiert fein die Giftdrüsen hinter dem Auge der Schlange. Ein paar winzige Tröpfchen treten noch aus, dann ist sie ausgemolken. Am Boden des kleinen Behälters hat sich ein Tropfen der milchig-gelben Flüssigkeit angesammelt. Zu wenig, um den Boden des Glases zu bedecken. Die Briefwaage, auf Zehntelgramm genau, zeigt nichts an. 

Trotzdem ist Roger Aeberhard zufrieden, wiederholt das Prozedere mit einigen weiteren Buschvipern, grünliche, braune. Die Schlangenart hat ein beeindruckendes Farbspektrum. Letztlich bleibt er aber bei seiner Meinung: «Schlangenmelken lohnt sich nicht.» Schliesslich müsste er, um auf eine einigermassen nützliche Menge Gift zu kommen, nicht ein halbes Dutzend, sondern vielleicht einhundert Schlangen der gleichen Art melken. Da ist dem passionierten Giftschlangenfreund die Vielfalt in seinen über fünfzig Terrarien wichtiger. Dort hält er neben den Buschvipern Königskobras, Grüne Mambas, Spitznasennattern, Brillenschlangen und vieles mehr.