Auf den ersten Blick wirkt die Szene fast fröhlich: Ein Rentier, gefilmt mitten in der endlosen Tundra Norwegens, hüpft durch einen Schneesturm. Dreht sich, hüpft wieder und wieder im Kreis. Dann zoomt der Amateurfilmer näher ran und langsam wird klar: Etwas stimmt hier nicht. Das Rentier macht keine Freundensprünge, es versucht einen Angreifer abzuschütteln.

Der Angreifer ist ein Vielfrass (Gulo gulo), einer der grössten Vertreter der Marder und Schrecken der skandinavischen Rentierzüchter. Er ist seinem Opfer, das vielleicht fünfmal so viel wiegt, an den Hals gesprungen und hat seine scharfen Zähne tief in das Fleisch gebohrt. Auf dem Youtube-Video dauert der Kampf rund zwei Minuten. Ein, zweimal schafft es das Rentier, den Vielfrass abzuschütteln, aber der springt gleich wieder auf. 

Wie das ungleiche Duell ausgeht, ist unklar, es scheint aber, als ginge dem Rentier allmählich die Kraft aus, sich zu wehren. Höchstwahrscheinlich wurde es dem Vielfrass letztlich zur fetten Beute. Passend scheint einer der Nutzerkommentare unter dem Video: «Für den Vielfrass ist alles, was kleiner ist als er, Futter. Und alles, was grösser ist, ist viel Futter.»

Rentierherden sind kaum zu schützen
Es kommt nicht von ungefähr, dass der knapp einen Meter lange Vielfrass oft in einem Atemzug mit dem Wolf, dem Braunbären und dem Luchs genannt wird. Er ist das vierte wichtige Grossraubtier in Europa – und das einzige, das aktuell nicht daran ist, sich in der Schweiz wieder zu etablieren. Zwar war der Bärenmarder, wie er auch genannt wird, während der letzten Eiszeit durchaus auch in Mitteleuropa anzutreffen – das zeigen Fossilienfunde. Seit vermutlich rund 10 000 Jahren hat er sich aber in den hohen Norden verzogen – übrigens nicht nur in den Europäischen Norden; der Vielfrass ist auch in Nordamerika und Sibirien heimisch.

Nichtsdestotrotz hat der Vielfrass mit «unseren» Grossraubtieren einiges gemein: So wurde er in den letzten Jahrhunderten durch den Menschen stark bejagt und fast ausgerottet; zum Einen, weil sein Pelz schön warm gibt, zum Anderen und vor allem aber, weil er den Rentierzüchtern ihre Herden dezimiert. Die Argumente kennen wir aus dem Alpenraum nur zu gut. Die riesigen, halbwild lebenden Rentierherden der Samen in Lappland sind kaum durch Zäune oder Hunde zu schützen. Das Gewehr war oft der effizienteste Schutz. Als der Vielfrass in den 1960er- und 1970er-Jahren letztlich unter Schutz gestellt wurde, blieben in ganz Skandinavien wohl weniger als 1000 Tiere übrig. 

Und die Schutzmassnahmen zeigten kaum Wirkung. Es gab zwar, ganz ähnlich, wie wir das in der Schweiz von Wolfsrissen auf Schafherden kennen, Entschädigungszahlungen für die Rentierhirten. Diese vermochten die Rentierbesitzer jedoch nicht zufriedenzustellen. Zumindest im Winter sind Rentiere die hauptsächliche Nahrungsquelle für die Vielfrasse. Die Zahl der toten Rentiere im samischen Grenzgebiet zwischen Schweden und Norwegen geht jährlich in die Tausenden. Das tut auch mit Schadenersatz weh – und lädt trotz Schutz zu Wilderei ein.

Zwei Millionen Franken pro Jahr
Seit 1996 versuchen es die schwedischen Behörden deshalb mit einem anderen Anreizsystem, um den bedrohten, aber ungeliebten Vielfrass zu schützen. Statt Rentierrisse zu entschädigen, werden die Hirten pauschal dafür bezahlt, dass sie den Vielfrass in ihrem Gebiet tolerieren – und Risse entsprechend in Kauf nehmen.

Das hat sich die Regierung einiges kosten lassen. Pro Vielfrass-Weibchen, das Jungtiere zur Welt bringt, bezahlt sie jährlich rund 20 000 Franken an die Rentierhirten; insgesamt kostet das den Staat rund zwei Millionen Franken im Jahr. Eine stolze Summe, die sich aber laut einer Studie aus dem Jahr 2015 positiv auf den Vielfrass-Bestand auswirkt: Männliche Vielfrasse werden zwar noch immer relativ fleissig illegal abgeschossen, die Weibchen aber signifikant weniger oft.

Im Studiengebiet konnte denn auch ein Wachstum der Vielfrass-Population festgestellt werden. Bedroht ist der vierte grosse Räuber Europas zwar noch immer, aber dank des schwedischen Finanzierungsprogramms gibt es nun eine Methode, in der Bevölkerung eine gewisse Akzeptanz für den Vielfrass zu schaffen – auch wenn sie vielleicht nur der klingenden Münze zu verdanken ist. 

Ob die Methode auch in der Schweiz dereinst dafür sorgen könnte, dass Schafbauern den Wolf oder den Luchs in ihrer Umgebung akzeptieren, steht auf einem anderen Blatt Papier geschrieben. Immerhin würde es voraussetzen, dass Risse explizit toleriert werden müssten. Ausserdem gibt es für Schafherden in der Schweiz gegenüber den halbwild lebenden Rentieren in Skandinavien doch noch realistischere Möglichkeiten in Sachen Herdenschutz.