Der Vogelzug ist wohl eines der grossen Wunder des Tierreichs. Wie es selbst die kleinsten Singvögel schaffen, jeden Herbst und jeden Frühling Tausende von Kilometern zurückzulegen, fasziniert Laien und Wissenschaftlerinnen gleichermassen. Gemäss den Erkenntnissen von Letzteren orientieren sich die Vögel an Landmarken, der Sonne, den Sternen und an den Linien des Erdmagnetfelds.

Trotzdem kommt es immer mal wieder vor, dass Vögel vom Weg abkommen und in Gebiete fliegen, die weder zu ihrem Brut- noch zu ihrem Überwinterungsgebiet gehören. Diese Orientierungslosen nennt man Irrgäste. Das neu im Berner Haupt-Verlag auf Deutsch erschienene Buch «Irrgäste – seltene Vögel in Europa» der französischen Ornithologen Frédéric Jiguet und Aurélien Audevard stellt 460 Vogelarten vor, die hin und wieder als Irrgäste in Europa stranden.

Vom Winde verweht
Warum sie sich überhaupt da hin verirren, kann verschiedene Gründe haben. Einserseits sind es Stürme, die die kleinen Flieger Tausende Kilometer vom Kurs abbringen können und so beispielsweise nordamerikanische Arten über den Atlantik wehen. Andererseits können auch Fehler im genetischen Zugprogramm dafür verantwortlich sein: Der Vogel fliegt los, voller Überzeugung, dass er auf dem richtigen Weg ist, und wird das Jahr für Jahr wieder so tun.

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Als dritten Grund geben die Autoren an, dass «ein winziger Teil einer jeden Population neue Strategien ausprobiert, die derzeit nicht zwingend zum Überleben führen, bei sich verändernden Umweltbedingungen eines Tages aber dazu führen könnten.» Sprich: Die Vögel probieren neue Wege aus, um mit ihrer Population vielleicht eines Tages expandieren zu können.

Laubsänger auf Abwegen
Landen solche Irrgäste – aus was für Gründen auch immer – in der Schweiz, sorgen sie unter Ornithologinnen und Ornithologen meist für grosses Aufsehen. So wie letztes Jahr der Tienschan-Laubsänger aus China, der sich ausgerechnet im Zürcher Chinagarten niederliess und erst zum zweiten Mal in der Schweiz nachgewiesen wurde.

In den letzten zwei Wochen dagegen wurde bei Genf ein Gelbbrauen-Laubsänger gemeldet, der in Nordchina, der Mongolei und Sibirien brütet. Beide Arten sehen den hiesigen Laubsängern, zu denen zum Beispiel Fitis und Zilpzalp gehören, aber so ähnlich, dass ein grosses Fachwissen nötig ist, um die seltenen Gäste überhaupt als solche zu erkennen.

So richtet sich das Buch denn auch hauptsächlich an ein Fachpublikum. Zwar zeigen über die 2000 Fotos jeden Vogel in mehrfacher Ausführung und die wichtigsten Bestimmungsmerkmale sind hervorgehoben, doch gute Kenntnisse der einheimischen Avifauna sind die Grundvoraussetzung. Wer diese nicht hat oder sie sich gerade erst erarbeitet, kann sich beim Durchblättern immerhin an der grossen Vogelvielfalt erfreuen, die es auch noch zu entdecken gibt.

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Frédéric Jiguet, Aurélien Audevard und Anne-Sophie Rust (Übersetzung): «Irrgäste – seltene Vögel in Europa»
1. Auflage 2020
Taschenbuch, 368 Seiten
Verlag: Haupt
ca. 50.- Franken
ISBN: 978-3-258-08197-7